Michael grinste und stieß seine Schwester in die Seite. „Na komm, lass dich doch nicht immer ärgern!“
Doch Luise hatte gar nicht ihre übliche Trauermiene aufgesetzt. Sie schüttelte den Kopf. „Also, wenn ihr euch die Chance entgehen lassen wollt … Ich werde es versuchen.“ Sie zog die Jungen mit sich. „Kommt, wir gehen nach Hause und schreiben unsere Wünsche auf. Und dann gehen wir zum Schuppen und legen sie in den Koffer.“
„Weißt du denn schon, was du dir wünschst?“, wunderte sich Michael.
„Na klar! Ein Schnitzmesser. Dann muss ich nicht mehr einen Stein oder einen Stock nehmen. Und bei deinem Messer ist ja schon eine Ecke abgebrochen. Und scharf ist es auch nicht mehr unbedingt. Mama und Papa haben schon gesagt, dass ich es nicht zu Weihnachten bekomme. Dabei wünsche ich es mir so sehr! Aber sie denken, ich bin noch zu klein dafür. Obwohl du ein Jahr jünger warst, als du dein Messer bekommen hast!“
„Du bist ja auch ein Mädchen!“
Empört wandte sich Luise an Christian. „Das ist doch kein Grund! Außerdem kann ich besser klettern als du.“
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Es dämmerte schon, als die drei Kinder zum Kirchgarten kamen. Beinahe ehrfürchtig schlichen sie den Kiesweg entlang. Am Holzschuppen baumelte eine Laterne über der Tür, die mit einem Strick offen gehalten wurde. Auf einem Hocker lag ein Koffer, groß genug, dass eine ganze Familie damit verreisen könnte. Aber auch so schwer, dass er schon ohne Inhalt kaum zu tragen gewesen wäre.
Michael kniete sich hin und hob den Deckel hoch. Im Laternenlicht konnten sie mehrere gefaltete Zettel erkennen.
„Wir sind nicht die einzigen“, wisperte Luise.
Vorsichtig legte sie ihren Zettel dazu, den sie ordentlich gerollt und mit einer Schleife verziert hatte. Michael holte sein geknicktes Blatt aus der Hosentasche und legte es daneben. Doch er zögerte noch, den Deckel wieder zu schließen.
„Sollen wir einmal nachschauen, was sich die anderen so gewünscht haben?“
Christian nickte und griff in den Koffer. „Was haben wir denn da?“
Lieber Engel!
Bitte mach, dass Papa nicht mehr so traurig ist und Mama nicht mehr so doll schimpft. Ich habe doch beide lieb!
Deine Katharina
„Da steht ja gar keine Adresse dabei“, wunderte sich Michael. „Wie soll der Engel denn dann wissen, wem er helfen soll?“
„Also, ich bitte dich“, lästerte Christian. „Wie kannst du nur glauben, dass ein Engel das nicht wüsste …“
„Oder hier.“ Christian warf den ersten Zettel wieder in den Koffer und griff nach dem nächsten. In wackeliger Schrift stand nur eine Bitte:
Ein Bund Tannenzweige, damit mein Herrmann im Winter gut bedeckt ist.
„Ich finde nicht richtig, was wir hier machen!“, meldete sich Luise. „Das sind Wünsche, die nicht für uns bestimmt sind. Die hier, das könnte die alte Gruber sein. Ihr Mann ist doch schon lange tot und sie kümmert sich immer um sein Grab. Dabei sieht sie doch fast nichts mehr. Wir sollten das nicht lesen.“ Entschlossen nahm sie Christian den Zettel aus der Hand.
„Ich habe eine andere Idee.“ Michael machte den Deckel zu und griff nach dem Zettel in Luises Hand. „Wir erfüllen der Gruberin ihren Wunsch. Tannenzweige finden wir doch genug im Wald. Und dann könnten wir sie auch gleich aufs Grab legen.“ Er steckte den Zettel in seine Hosentasche, stand auf und klopfte sich die Hose ab. „Es wird dunkel. Wir sollten nach Hause gehen.“
Die anderen beiden nickten und folgten ihm über den Kirchhof. Nur Christian blickte immer wieder zweifelnd zurück.
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Der große Baum warf lange Schatten auf den Hof. Die Zweige ächzten, und irgendwo rief ein Käuzchen. Christian atmete tief ein und ging dann zügig weiter. Er brauchte einfach nur auf die Laterne zu schauen. Nur noch fünf Schritte, höchstens sieben, dann hätte er den Schuppen erreicht. Warum hatte er auch vorhin nicht einfach zugeben können, dass er die Wunschidee eigentlich gar nicht so schlecht fand? Dann wäre ihm dieser Ausflug im Dunkeln erspart geblieben.
„Guten Abend!“
Mit einem Aufschrei sprang Christian zur Seite. Dann atmete er erleichtert auf. Auf der Bank unter dem Baum saß eine Frau. Er kannte sie und wusste doch nicht, wie sie hieß. Sie nannten sie die Baumfrau, da sie in den letzten Monaten fast immer auf der Bank zu sitzen schien. Jetzt erhob sie sich lächelnd, nickte noch einmal zu ihm herüber.
„Du solltest auch bald nach Hause gehen. Es ist schon spät!“ Sie lächelte und schien zu überlegen, ob sie noch etwas sagen sollte. Doch dann steckte sie die Hände in die Manteltaschen, die merkwürdig ausgebeult wirkten, drehte sich um und ging davon.
Christian wartete, bis sie durch das Hoftor verschwunden war. Dann rannte er zum Schuppen, nestelte das kleine Blatt aus seiner Hosentasche und hob den Deckel. Der Koffer war leer.
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Ein paar Tage später legte der Vater ein Päckchen vor Luise auf den Frühstückstisch und setzte sich mit der Zeitung auf seinen Stuhl. In ordentlicher Schrift stand „Luise“ auf dem Packpapier. „Weißt du, was das zu bedeuten hat?“
„Vielleicht hat der Nikolaus gestern noch ein Geschenk vergessen“, kam Michael seiner Schwester zur Hilfe.
„Oder ein Engel hat es zu uns gebracht.“ Die Mutter zwinkerte ihrer Tochter zu.
Luise schluckte. Wusste ihre Mutter Bescheid? Vorsichtig befingerte sie das Päckchen. Könnte es sein ...?
„Darf ich aufstehen?“
„Und ich auch?“
Die Geschwister gingen ins Kinderzimmer. Sorgfältig wickelte Luise ihr Geschenk aus. Zum Vorschein kam das schönste Schnitzmesser, das sie jemals gesehen hatte.
„Oh, ist das toll! Wunderschön!“ Ehrfürchtig strich Luise über den Knauf und die fein gearbeitete Ledertasche. „Dann war es ja gut, dass ich unsere Adresse dazu geschrieben habe.“
Michael nickte. „So hast du es dem Engel leichter gemacht.“
„Was hast du dir eigentlich gewünscht?“, fragte Luise ihren Bruder.
Michael lächelte verträumt und sah das Messer an. „Mein Wunsch ist schon in Erfüllung gegangen.“
10. Dezember: Ihr Kriegerlein kommet (J&E)
Ein Drama in drei Akten
Dramatis personae
Kalchas (Seher der Griechen)
Agamemnon (Anführer der Griechen)
Menelaos (dessen Bruder)
Achilles (größter Held der Griechen)
Aiax (zweitgrößter Held der Griechen)
Odysseus (listigster Held der Griechen)
Priamos (König von Troja)
Kassandra (seine Tochter, Seherin der Trojaner)
Hektor (größter Held der Trojaner)
Aeneas (zweitgrößter Held der Trojaner)
Laokoon (Trojanischer Priester)
Penthesilea (Königin der Amazonen)
Paris (Bruder von Hektor)
Helena (Menelaos’ Frau, Geliebte des Paris)
Zeitpunkt der Handlung: Zehntes Jahr des Trojanischen Krieges
Erster Akt
Ort der Handlung: Lager der Griechen
Die Heerführer der Griechen stehen um einen Tisch herum, auf dem ein Modell Trojas steht.
(Kalchas betritt die Szene und reckt die Arme gen Himmel.)
Kalchas Ein Wunder! Ich kann sehen!
Aiax Bitte nicht schon wieder.
Kalchas Ich sehe! Ich sehe!
Menelaos Klar, wenn man die Augen offen hat, klappt das auch.
Kalchas (mit dem Finger auf Menelaos zeigend) Du! Du solltest ganz still sein. Hättest du dir nicht die Frau, die schöne Helena, rauben lassen, wären wir nicht hier.
Agamemnon Und hätten wir auf dich gehört, als wir hierher segelten und in die Windstille gerieten, hätte ich meine Tochter Iphigenie geopfert.
Achilles Mir ist langweilig. Jeden Tag Schädel einschlagen wird auf Dauer echt langweilig.
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