„Auf dich, Rebecca.“ Ihr Vater hob sein Glas und lächelte ihr zu. Es war ein schönes Lächeln. Ein stolzes Lächeln. Und da war noch etwas ... Etwas, das Rebecca ins Herz traf, ohne dass sie zunächst wusste, was es war.
„Auf dich.“ Die Augen ihrer Mutter waren feucht, aber auch sie lächelte.
Rebecca war plötzlich wieder klein. Sie sah sich heimlich im Flur herumschleichen, während ihre Eltern die Geschenke einpackten. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater sie getröstet hatte, als sie die Treppe hinuntergestürzt war. Sie erinnerte sich daran, wie sie unglücklich verliebt gewesen war und wie ihre Mutter sie in ihren Armen gehalten hatte. Sie erinnerte sich an den Duft der Bettwäsche, an den angenehmen Geruch von Mandelöl, das immer im Badezimmer bereitstand. Sie sah sich stolz mit ihrer Schultasche in der Haustür stehen, bereit für die Einschulung. So viele wunderschöne Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf, längst vergessen geglaubte Erinnerungen, die so ewig von diesen längst völlig nichtigen Problemen, wann man als Teenager zu Hause zu sein hatte, überlagert worden waren. Wieso hatte sie all das Schöne vergessen? Wieso hatte sie sich so in diese Ablehnung verbissen? War das eine Notwendigkeit der Abnabelung? Vielleicht war es so. Aber jetzt, nach fast einem Dutzend Jahren?
Und sie erinnerte sich an den letzten Blick ihres Vaters, als sie ausgezogen war. Als er ihr hinterherblickte und ihr zuwinkte, als sie endgültig das Haus verlassen hatte. Es war der gleiche Blick, wie sie ihn jetzt sah. Nie hatte sie darüber nachgedacht, was das für ein Blick war. Doch jetzt, in diesem Moment, da war ihr alles klar.
Sie sah, wie ihre Eltern sich an den Händen hielten, vereint wie immer. Wie sie unsicher zu ihr schauten, auch nicht wussten, was sie sagen, was sie tun sollten.
Gott, dachte Rebecca, was bin ich dumm, was bin ich blind! Ja, ich lebe anders als meine Eltern, und ich will das auch so. Aber hier, hier finde ich bedingungslose Liebe. Einfach weil ich ich bin! Egal wann. Egal wie ich mich aufführe. Hier bin ich immer willkommen! Ohne jede Vorbedingung. Und ich war zu blind, das zu erkennen. Elisa aber, sie hatte das schon damals bemerkt und mich darum still beneidet. Niemals werde ich wieder so viel Zeit vergehen lassen.
Tränen des Glücks schossen ihr in die Augen. Sie stellte ihr Glas ab, ging auf ihre Eltern zu und konnte nicht anders, als sie zu umarmen. Und es war ein so herrliches Gefühl, bei ihnen zu sein. Es würde ein wunderschönes Weihnachtsfest werden. Und sie würden sich alle ganz, ganz viel erzählen, weil es so viel zu erzählen gab. Das stand jetzt schon fest.
10. Dezember: Ein Koffer voller Wünsche (K)
Sie liebte die Ruhe, die von diesem Ort ausging, dem Ort, der ihr so viel bedeutete. Natürlich, die Holzbank war längst erneuert worden und der Baum hatte etliche Jahresringe hinzugewonnen, und doch sah sie sich noch als junge Frau unter seinen Zweigen sitzen. Damals war sie glücklich gewesen. Damals und die letzten Jahrzehnte ebenfalls, auch wenn es nicht immer einfach gewesen war. Doch sie hatten es geschafft. Gemeinsam. So, wie sie immer gemeinsam eine Lösung gefunden hatten. Aber jetzt war sie allein. Und sie fühlte sich alt. Deutlich älter, als sie es eigentlich war.
Der Pfarrer ging mit einem Mitarbeiter über den Hof und grüßte zu ihr herüber. Sie nickte ihm zu und nahm ihn doch kaum wahr.
Es wurde kälter. Die Sonne ging in diesen Monaten schon früh unter und konnte auch tagsüber kaum wärmen. Dabei hätte sie die Wärme gut gebrauchen können. In den Häusern wurden Laternen angezündet und leuchteten aus den Fenstern auf die Straße. Sie sahen hübsch aus, liebevoll gestaltete Windlichter, die dennoch nicht ihr Herz erreichten. Eigentlich hatte sie auch eine Laterne basteln wollen, zusammen mit ihrer kleinen Enkeltochter. Doch sie hatte keine Kraft dafür gehabt. Jetzt hatte ihre Schwiegertochter sich darum gekümmert, damit sie nicht ohne Licht zum Umzug gehen mussten.
Sie zog den Schal fester um den Hals und richtete sich auf. Als sie nach dem kleinen Kissen greifen wollte, das sie sich seit der Blasenentzündung mitnahm, weshalb sie zwei Wochen nicht zu ihrem Baum gehen konnte, zögerte sie. War da etwas in dem Astloch? Ein Stift? Ein Geschenk? Oder ein Schlüssel? Vom Boden aus konnte sie es nicht erkennen. Mühsam kniete sie sich auf die Sitzfläche, hielt sich mit beiden Händen an der Lehne fest, stellte einen Fuß auf und stemmte sich hoch. Mit einer Hand stützte sie sich am Stamm ab und schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, konnte sie erkennen, dass sich das Astloch jetzt fast auf Kopfhöhe befand.
Sie beugte sich vor und zog eine längliche Metallbox heraus. Als sie den Deckel öffnete, sah sie einen vergilbten Zettel. Er war zerknittert und mit einer gelben Schleife zusammengebunden. Im ersten Impuls wollte sie an einem Ende des Bandes ziehen, doch dann zögerte sie. Sorgfältig klopfte sie den Dreck ab und steckte die Box mit dem Zettel in ihre große Manteltasche.
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„Habt ihr es schon gehört?“, fragte Christian und kickte einen Stein weg.
„Was denn?“ Michael sah zu seinem Freund. Wie kam es nur, dass er immer alle Gerüchte als erster kannte? Auch seine Schwester Luise sah von ihrem Zweig auf, den sie mit einem spitzen Stock abschabte. Eigentlich war er mit Christian am liebsten allein unterwegs. Aber heute hatte Mama sie wieder einmal gebeten, seine jüngere Schwester Luise mitzunehmen. Wenn er ehrlich war, störte sie meistens eigentlich gar nicht so doll. Beim Rennen war sie etwas langsamer, dafür unglaublich geschickt, wenn es darum ging, in hohe Bäume zu klettern. Und ihre Staudamm-Konstruktionen waren legendär. Aber ob sie auch Geheimnisse bewahren konnte? Egal, es war ja nicht sein Geheimnis.
Christian winkte sie zu sich und legte ihnen jeweils einen Arm auf die Schulter. „Habt ihr schon gehört, dass wir einen Engel im Dorf haben?“
„Einen Engel?“
„Pst, Luise! Nicht so laut!“, zischte ihr Bruder.
„Ja, einen Engel“, fuhr Christian fort.
„Würde ja in die Zeit passen“, lachte Michael. „Wenn nicht jetzt in der Adventszeit, wann dann?“ Er sah seinen Freund an. „Ist er dir erschienen und hat dich ermahnt, immer brav zu sein?“
„Unterbrecht mich doch nicht immer“, beschwerte sich Christian. „Ihr wisst ja gar nicht, was ich erzählen will! Frau Sommer, die Tante von Alex, ihr wisst schon, dem Freund von meinem Bruder, also, die hat ein Geschenk vor ihrer Tür gefunden.“
„Ein Geschenk?“, wunderte sich Michael. „Was denn?“
„Irgendsoein besonderer Haarkamm. Sie hatte früher mal so einen, und dann hatte sie ihn verloren, oder er war kaputt. Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall hatte sie ihn nicht mehr. Und dann hat sie es letzte Woche beim Kirchkaffee erzählt. Und ein paar Tage später hatte sie ein Päckchen im Blumenkasten neben der Tür.“
„Dann hat es wohl jemand gehört, wie sie es erzählt hat. Oder es gibt wirklich Wichtelmännchen.“ Michael lachte und dachte an die gestickten Figuren auf ihrem Adventskalender. „Wie kommst du darauf, dass es ein Engel sein könnte?“
„Weil das nicht das einzige ist. Meine Mutter hat dann erzählt, dass der Schuster Hans einen neuen Füller bekommen hat und die Liesl vom Bauer Schwarzer eine rosa Haarschleife. Und der Metzger hatte einen Zettel im Briefkasten mit einer Liste, wem er zu Weihnachten einen Braten liefern soll. Geld lag auch gleich mit dabei.“
„Das kann nur ein Engel gewesen sein!“ Luises Augen leuchteten. Sie liebte Sagen und Märchengeschichten.
Christian sah sie spöttisch an. „War ja klar, dass du das wieder glaubst. Dann kannst du ja auch zum Schuppen im Kirchgarten gehen. Dort hat der Pfarrer jetzt einen Koffer aufgestellt. Angeblich kann man dort einen Zettel mit einem Wunsch reintun. Und wenn es ein richtig großer und wichtiger Wunsch ist und man abends immer dafür betet, dass er sich erfüllt, dann geschieht das auch.“
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