Und dann sah Henry Margots Blick. Ihre Mundwinkel zuckten nach unten, und ihre Stirn zog sich in Falten. Und auch Dirk schaute ihn skeptisch an. Ralf blickte todtraurig ein letztes Mal auf den Murmelkönig in Henrys Hand und schlurfte dann geschlagen davon.
Der Triumph war plötzlich nicht mehr so triumphal. Er stieß in Henry sauer auf. Einerseits fühlte es sich unglaublich gut an, diesen Murmelkönig in der Hand zu halten, den vernichteten Störenfried von hinten zu sehen, von Brigitte wirklich und wahrhaftig kurz umarmt zu werden. Aber andererseits stieg in Henry die Angst empor, dass Margot oder Dirk gesehen hatten, wie er sich zum Sieg geschummelt hatte. Warum sagten sie nichts? Gottseidank sagten sie nichts. Aber würden sie schweigen?
„Das war super!“, kreischte Brigitte, und sie bemühte sich, den Murmelkönig zu berühren.
„Hätte ich nie geglaubt“, grummelte Olaf.
„Ich auch nicht“, schüttelte Lothar ungläubig den Kopf. „Aus der Entfernung? Drei Murmeln? Nee…“
Margots Stirn zog sich noch mehr zusammen, und Dirk sagte: „Ich hätt’s gerne gesehen.“
Henrys Hand zitterte. Immer noch starrte er Ralf hinterher. Er hatte diesen Störenfried besiegt, diesen Angeber, diesen Aufschneider. Und das war gut! Andererseits hatte Ralf ihm sofort den Murmelkönig gegeben, obwohl niemand gesehen hatte, wie Henry die letzten Murmeln in die Kuhle befördert hatte. Ralf mochte ein Angeber sein, ein Schummler war er nicht. Und er zweifelte nicht einmal an, dass Henry dies über diese erstaunliche Entfernung vollbracht hatte.
Der Murmelkönig in Henrys Hand schien immer schwerer zu werden. Doch sollte er zugeben, dass er geschummelt hatte? Vielleicht hatten Margot und Dirk wirklich nichts gesehen. Und er war schließlich der Sieger! Und Brigitte…
Henry fühlte nach seinem Fahrtenmesser. Den Murmelkönig einfach zurückgeben? Kam nicht in Frage! Ralf eine Revanche bieten und sich danach anhören müssen, wie gut er – Ralf – doch war, weil er vermutlich gewinnen würde? Unerträglich.
Irgendjemand schlug ihm anerkennend auf die Schulter, dass es krachte. Olaf, der Hüne, nicht zu fassen! Die Anerkennung tat gut.
Noch einmal sah er Ralf hinterher, der traurigen Gestalt. Vermutlich weinte er jetzt, weil er seinen größten Schatz verloren hatte. Henry versuchte, sich darüber zu freuen, doch unwillkürlich wanderte seine Hand zum wiederholten Male zum Fahrtenmesser. Wie würde er reagieren, wenn er es verloren hätte? Und wenn Ralf vielleicht auch noch dabei geschummelt hätte?
Triumph, Stolz, Schadenfreude und ein merkwürdiges Gefühl, das ihm Übelkeit in seinem Magen bereitete… Er schämte sich. Nur – wie kam er aus der Nummer wieder heraus? Henry wusste es nicht. Aber der Tag, soviel war sicher, war endgültig verdorben.
Vielleicht hatte Ralf ja den Murmelkönig auch zu Weihnachten bekommen? Vielleicht war der Murmelkönig für ihn ein ebenso wertvolles Geschenk wie das Fahrtenmesser für Henry? Nein, es fühlte sich immer unangenehmer an, wie Diebstahl. Aber den konnte er doch nicht zugeben. Oder doch? Und wenn Ralf dann allen erzählen würde, dass Henry betrogen hätte? Nur, vielleicht tat er das gar nicht? Ralf war immerhin ein fairer Verlierer. Allerdings ein betrogener Verlierer. Also eigentlich kein wirklicher Verlierer.
Und da formte sich ein neuer Gedanke in Henrys Kopf. Wie wäre es, Ralf etwas zu Weihnachten zu schenken? Bis dahin war es noch recht lange hin, und das würde bedeuten, der Murmelkönig könnte erst einmal einen Ehrenplatz bei Henry bekommen. Dann aber könnte er …
Er atmete geradezu auf: Ja, der Murmelkönig als Geschenk! Das war kein wirkliches Zugeben eines Betruges. Eher eine freundschaftliche Geste. Wie sie alle es untereinander durchaus zu Weihnachten machten. Gut, es war nie etwas so Besonderes, vielleicht mal eine dem Freund fehlende Sammelkarte für das aktuelle Album oder ein besonders schön geformter Stein. Aber eigentlich war ja der Murmelkönig auch nur ein Haufen Glas. Und den konnte man doch auch wieder zurückschenken. Insbesondere wenn man sich gar nicht so wohl fühlte, wenn man ihn hatte. Oder?
Henry nickte sich innerlich zu. Er hatte bis Weihnachten noch Zeit zum Nachdenken. Vielleicht war Ralf auch gar nicht so übel? Brigitte, die immer noch um ihn hüpfte und “toll, toll“ schrie, nervte gerade sogar ein bisschen. Schummeln war nicht cool. Und das würde er wiedergutmachen. Jawohl! Aber später. Irgendwann. Bestimmt! Auf jeden Fall!
9. Dezember: Lebenspläne (J&E)
Rebecca saß in ihrem Auto und schaute auf das Haus gegenüber. Sie kannte jeden Millimeter dieses Gebäudes, jeden kleinen Riss im Putz, jede Ecke, jede Fuge. Sie hatte hier die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens gewohnt, gelebt, gegessen, geschlafen, Hausaufgaben gemacht, mit ihren Freundinnen gespielt. Und auch das eine oder andere Mal mit ihren Eltern gestritten.
Die junge Frau schloss die Augen. Nun war sie fast dreißig Jahre alt, und in den Jahren nach ihrem Auszug war sie nicht oft hier gewesen. Das letzte Mal war – sie wusste es gar nicht mehr so genau – sieben Jahre her. Oder waren es sogar schon acht? Oder doch neun? Eigentlich war es unwichtig.
Erinnerungen zogen in ihr auf. Ein Streit mit ihrem Vater wegen einer Freundin, die ihr Vater nicht hatte leiden können. Oder ein Konflikt mit ihrer Mutter, die einfach nicht verstehen wollte, dass Rebecca kein kleines Kind mehr war und deshalb am Wochenende nicht ständig kontrolliert werden wollte. Andere Eltern taten das doch auch nicht! Und mit Sechzehn oder Siebzehn ist man sehr wohl in der Lage, selbst zu entscheiden, wo man hingeht. Und wann man nach Hause kommt.
Rebecca hatten die permanenten Versuche ihrer Eltern, über ihr Leben zu entscheiden, wahnsinnig gemacht. Sie hatte es schon als kleines Kind nicht leiden können, wenn ihre Mutter etwas beschloss, was Rebecca nicht wollte. Gut, natürlich ging es hier nicht um den ersehnten Eisbecher oder ein Paar Schuhe, sondern um wichtigere Dinge...
Tief einatmend lehnte sich die junge Frau in ihrem Fahrersitz zurück. Eigentlich wusste sie nicht mehr alle Details aus ihrer Kindheit, was damals wirklich echte Gründe für Streitigkeiten waren. Bis auf die Sache mit Elisa, ihrer Freundin. Die Freundin, die ihre Eltern nicht mochten. Elisa war cool, cooler als die anderen Mädchen. Sie waren dreizehn Jahre alt gewesen, und Elisa hatte schon einen Freund. Und sie rauchte. Eigentlich fand Rebecca das Rauchen ziemlich dumm, wie eigentlich alle anderen auch, aber dass Elisa sich das traute, das war der Punkt gewesen. Elisa scherte sich nicht um das, war ihr gesagt wurde. Sie machte ihr Ding. Und sie war ja trotzdem auch nicht unhöflich. Sie grüßte und machte ihre Hausaufgaben und störte den Unterricht nicht. Weshalb also diese ständigen Gespräche, in denen ihre Eltern ihr klarmachen wollten: Elisa ist keine gute Freundin für dich!
Natürlich hatten sie sich weiter getroffen, und schließlich hatte auch Rebecca geraucht. Heimlich. So heimlich, dass es bis auf Elisa niemand wusste. Und eigentlich fand sie es ekelhaft. Aber aus Prinzip war es ihr wichtig. Sie entschied! Das hatte sie von Elisa gelernt.
Ihre Eltern hatten sie dann stets genervt, sie möge lernen für die Schule. Es sei ihre Zukunft. Und Rebecca hatte mit fünfzehn und sechzehn überaus gereizt reagiert. Hielten ihre Eltern sie für dumm? Vor ihrem geistigen Auge entstand eine Situation, wie sie nur allzu häufig vorgekommen war. Ihre Mutter, die sie daran erinnerte, dass sie vor dem Treffen mit ihrer Clique erst einmal die Hausaufgaben machen solle. Als ob sie eine schlechte Schülerin gewesen wäre! Im Gegenteil, sie lag immer im vorderen Drittel der Klasse. Auch beim Übergang auf die gymnasiale Oberstufe war sehr schnell klar: Das Abitur war nie in Gefahr. Es war einfach nur die Frage, mit welcher Note Rebecca bestehen würde.
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