Rückwirkend betrachtet konnte die junge Frau natürlich verstehen, dass ihre Eltern nur das Beste für sie gewollt hatten, aber in ihrer Erinnerung war alles derart penetrant geschehen, dass sie sich eingeengt gefühlt hatte. Sie hatte Lust zu reisen, Leute zu treffen, ins Ausland zu gehen. Und sie hatte keine Lust auf ihr Zuhause, auf ihre nervenden Eltern.
Was Rebecca immer irritiert hatte, war, dass ihre Freundinnen ihre Eltern eigentlich recht nett fanden. Selbst Elisa, obwohl sie ja von ihnen abgelehnt wurde. Rebecca hatte dann stets die Augen gerollt und gesagt: „Wir können ja mal tauschen!“ Dann hatten alle gelacht, und ihre Eltern waren vergessen. Nur Elisa hatte noch traurig und sehr ernst hinzugefügt: „Das willst Du nicht.“ Aber, und das stand fest, das Nerv-Potential ihrer Mutter und ihres Vaters hatten ihre Freundinnen ja nie persönlich erlebt. Rebecca war in jener Zeit zu der Überzeugung gelangt, nach dem Abitur so schnell wie möglich das elterliche Haus zu verlassen.
Sie hatte ein gutes Abitur gemacht, kein glänzendes, aber ein gutes. Ihre Eltern hatten eine kleine Feier veranstaltet, und auch wenn die Note niemals erwähnt wurde, so war Rebecca sicher, dass sie ihre Eltern eigentlich enttäuscht hatte. Doch dann bot sich diese einzigartige Chance eines Auslandsjahres, eine Ausbildung, gekoppelt mit der Möglichkeit eines späteren Studiums. Wieder war es Elisa gewesen, die ihr den Tipp gegeben hatte.
Zu Rebeccas Erstaunen hatten ihre Eltern dem Vorhaben sofort zugestimmt. Kein Meckern, dass es zu teuer sei. Nein, viel besser, ihre Eltern boten ihr eine monatliche Unterstützung, die sie in dieser Höhe niemals erwartet hatte. Sie war frei! Frei zu entscheiden, und sie nutzte ihre Chance!
Sie und Elisa gingen ins Ausland, wohnten zunächst zusammen. Die Ausbildung machte Rebecca Spaß, und schon nach einem halben Jahr bot ihr die Firma, für die sie arbeitete, eine duale Fortbildung an. Sie konnte arbeiten und studieren! Rebeccas und Elisas Lebenswege trennten sich nach einiger Zeit, absolut freundschaftlich. Rebecca arbeitete und lernte, und Elisa fand nach der Ausbildung in einer anderen Stadt eine Stelle, die ihr gefiel. Da war nicht viel Zeit für die Freundschaft.
Rebecca konnte nun auch reisen, nicht nur zu wunderschönen Urlaubszielen, sondern auch beruflich. Sie war gut, sie war erfolgreich. Sie ging auf Partys, sie lernte interessante Leute kennen, und wenn Menschen sie langweilten, dann lernte sie neue Leute kennen. Längst war sie nicht mehr auf das Geld ihrer Eltern angewiesen, hatte ihnen mitgeteilt, sie könnten die Zahlungen einstellen, was ihre Eltern erst nach mehrfacher Aufforderung auch wirklich taten.
Und überhaupt, das Beste an der ganzen Sache war, dass ihre Eltern sie nicht mehr nerven konnten. Man telefonierte miteinander, und Rebecca spürte von Jahr zu Jahr, wie weit sie mittlerweile eigentlich von ihrem Elternhaus entfernt war. Es war einfach nur der Ort, an dem sie früher gelebt hatte. Es war auch nicht so, dass sie ungerne mit ihren Eltern telefonierte, aber irgendwie hatte man sich nichts zu sagen. Ihre Eltern lebten seit Ewigkeiten in ebendiesem Haus. Und sie, sie zog regelmäßig um, bekam in ihrem Job immer wieder eine neue berufliche Aufgabe in einer anderen Stadt, in einem anderen Land. Längst hatte sie auch ihr Studium beendet, war trotz ihrer jungen Jahre schon mit einer beeindruckenden Karriere versehen. Die Türen standen ihr offen. Headhunter umschwirrten sie. Und nicht nur Headhunter.
Sie hatte viele Freunde, sie kannte viele Menschen, und sie hatte auch keine Probleme, wenn sie Lust auf etwas Intimeres hatte. Allerdings schätzte sie es auch, den Abstand wahren zu können, Distanz zu halten. Ihre Eltern hingegen, die waren schon weit über dreißig Jahre verheiratet. Das wäre nie etwas für sie, davon war Rebecca fest überzeugt.
Als sie noch mehr oder wenig abhängig vom Geld ihrer Eltern gewesen war, hatte sie sie ab und zu besucht. Pflichtbesuche, hatte sie dann immer zu Elisa gesagt, und Elisa hatte immer etwas merkwürdig reagiert. Elisa hatte sich noch viel schlechter mit ihren Eltern verstanden, hatte die Verbindung radikal abgebrochen, als sie es sich finanziell leisten konnte. Warum reagierte Elisa so seltsam, wenn Rebecca ihr sagte, dass sie keine Lust auf ihre Eltern hatte?
Letztendlich war die junge Frau froh gewesen, als auch die Anrufe ihrer Eltern seltener wurden. Mittlerweile telefonierten sie alle paar Monate, und es war zu Rebeccas Routine geworden, ihren Eltern stets ihre neue Adresse mitzuteilen, wenn sie an eine andere Stelle versetzt worden war. Immer bekam sie dann in den nächsten Tagen einen Blumenstrauß zugestellt oder Konfekt, mit Grüßen von ihren Eltern. Irgendwie, dem konnte sich selbst Rebecca nicht entziehen, war das schon ein wenig rührend. Eine merkwürdige Konstante in ihrem Leben, und als einmal das Geschenk für mehrere Wochen ausblieb, war sie regelrecht verärgert. Und dann war dann plötzlich doch ein Blumenstrauß da, und sie bekam mit, dass sie ihren Eltern versehentlich eine falsche Adresse übermittelt hatte. Und so war das Geschenk ins Leere gelaufen, bis ihre Eltern aus eigener Kraft ihre Adresse herausfanden. Sie hatten sie nicht einmal gefragt.
Rebecca hatte viel zu tun, war ständig beschäftigt, hatte nur wenig Zeit, über Belangloses nachzudenken. Sie liebte ihren Job, liebte ihr Leben. Es ging ihr gut, und sie vermisste nichts.
Und dann kam die Nachricht, dass sie für ein Projekt nach Deutschland versetzt würde. Und dann auch noch in ihre Heimatstadt. Im nächsten Jahr würde sie für sechs Monate dort sein. Sie hatte lange gezögert, dies ihren Eltern mitzuteilen. Sie wäre nur einige Kilometer von ihnen entfernt, und sie hatte kein gutes Gefühl. Würde ihre Mutter ihr wieder erklären, wie sie sich zu verhalten hätte? Würde ihr Vater ihr wieder erläutern, dass es nicht gut sei, wenn sie unausgeschlafen in die Schule ging? Oder jetzt zur Arbeit? Es war nichts Bestimmtes, was Rebecca beschäftigte, es war einfach ein allgemeines Unwohlsein. Sie war eine erfolgreiche Frau, aber bei ihren Eltern, das fühlte sie, würde sie wieder zu einem hilflosen, dummen Kind mutieren. Bei Menschen, die sie kaum noch kannte.
Am Ende hatte sie ihren Eltern doch eine Email geschrieben, dass sie zum Jahresende nach Deutschland ziehen würde, und am nächsten Tag hatte ihr Vater sie angerufen und gefragt, ob sie etwas dagegen haben würde, Weihnachten mit ihnen zu verbringen. Und bei ihnen zu übernachten.
Weihnachten! Das war in ihrer Familie immer eine ziemlich große Sache gewesen, und solange ihre vielen größeren Cousins und Cousinen noch dabei gewesen waren, war das alles ganz nett gewesen. Aber als sie selbst fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war, war sie als letztes Kind im Kreise der Erwachsenen verblieben, und nie hatte sie derartig langweilige Feiern erlebt. Dieses gezwungene Sitzen unter dem Weihnachtsbaum. Und vorher das nervige Schmücken. Das aufgesetzte „Frohe Weihnachten!“ Der scheinheilige Gang zur Kirche, mehr deshalb, weil man das halt so machte, nicht aber, weil man das auch wirklich tun wollte. Und Rebecca hatte sich dann erkämpft, mit Elisa und anderen Freunden und Freundinnen zu feiern. Auch das hatte natürlich einen Riesenstreit gegeben, und Rebecca hatte vor lauter Wut sogar ihren Vater geschubst. Es war das einzige Mal, dass sie handgreiflich geworden war, und nie hatten ihre Eltern sie jemals geschlagen, aber Rebecca war sich sicher, dass diese Situation das endgültige Zeichen gewesen war, dass ein längeres Zusammenleben einfach nicht mehr ging.
Wie gut, dass die Trennung so positiv verlaufen war. Und so vollkommen schmerzlos.
Aber nun saß sie in ihrem Auto und starrte auf das Haus. „Ihr“ Haus. Sie sah sich selbst durch den Garten springen, mit dem alten Hund ihrer Mutter spielen, als sie noch ganz klein gewesen war. Wie hatte er geheißen? Max? Sie wusste es nicht mehr genau, aber es war ein ziemlich großer schwarzer Hund gewesen. Oder braun? Auf jeden Fall aber war er sehr gutmütig gewesen, denn sie hatte ständig in sein Fell gegriffen, und der Hund hatte nie geklagt, sondern ihre Hände schwanzwedelnd abgeschleckt.
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