Sie sah die Straßenlaterne vor dem Haus und erinnerte sich daran, dass sie einmal beim Fahrradfahren mehr nach hinten zu einem Schulfreund geschaut hatte als nach vorne auf den Weg. Und so war sie ungebremst in die Laterne gefahren. Das Rad war vollkommen verbogen, und sie hatte sich einen Arm gebrochen. Ihre Mutter hatte mit ihr geschimpft, dass sie mehr aufpassen solle, und ihr Vater hatte ihr ein neues Rad gekauft ...
Rebecca musste schlucken. Daran hatte sie schon lange nicht mehr gedacht. Sie hatte einfach ein neues Rad bekommen.
Die junge Frau schaute auf das Geschenk neben ihr. Was schenkte man einem Paar, das seit gefühlten Ewigkeiten zusammen am selben Ort wohnte? Sie hatte sich entschieden, ihren Eltern ein Bild zu malen. Seit einigen Jahren malte sie zum Zeitvertreib, wenn sie mal ein wenig Freizeit hatte. Sie mochte das Spielen mit den Farben und mit verschiedenen Techniken, liebte das Abstrakte, das Gestalten mit Formen jedweder Art. Sie hatte ein Bild ausgewählt, das sie sehr mochte, mit Dreiecken und Quadraten, sehr geometrisch, in rötlichen und orangenen Tönen gehalten, die in sanftes Braun am Rand verliefen. Im Prinzip wirkte es wie ein wunderschöner Sonnenuntergang an einem Sandstrand, und soweit sie das Wohnzimmer ihrer Eltern noch in Erinnerung hatte, würde es dort gut hineinpassen. Sofern ihre Eltern, die bestimmt nichts verändert hatten, den Mut dazu aufbrachten.
Wovor hatte sie nun also Angst? Ihre Eltern waren doch keine Monster! Oder war es die Angst vor der Sprachlosigkeit? Vor dem Nicht-Wissen, was man sagen sollte? Was man sich überhaupt zu sagen hatte? Rebecca biss die Zähne zusammen, stieg aus, strich ihren Rock zurecht, zupfte an ihrem Jäckchen, kontrollierte ihre hohen Schuhe. Alles war in bester Ordnung. Sie zog das Bild vom Beifahrersitz, hängte ihre Handtasche in die Armbeuge, holte die kleine Reisetasche vom Rücksitz, verschloss das Auto, atmete noch einmal tief durch und ging dann entschlossen über die Straße.
Sie musste nicht klingeln. Die Gartenpforte summte, sie trat hindurch – und fühlte sich wie in eine Zeitkapsel versetzt. Die Rosenbeete, die ihr Vater so sehr pflegte, sie waren immer noch da. Es schienen teilweise andere Rosenstöcke zu sein, auch andere Rosenarten, aber ihr Vater zog sie immer noch. Der kleine Kiesweg, der um das Haus herum in den hinteren Bereich des Gartens führte, war wie immer penibel gepflegt und sauber wie eh und je. Was hatte sie ihre Eltern in den Wahnsinn getrieben, wenn sie die kleinen Kiesel heimlich einsammelte und zum Spielen auf die Straße oder zu Freunden schleppte!
Auch der Baum, an dem ihre Schaukel gehangen hatte, war noch da. Natürlich war da längst keine Schaukel mehr. Die hatte ihr Vater schon abgehangen, als sie noch zu Hause gewohnt hatte. Aber am Ast waren immer noch die Einkerbungen zu sehen, wo einst die Seile tief in das Holz geschnitten hatten.
Rebecca war eigenartig zumute. So hatte sie sich noch nie gefühlt. Auch nicht, als sie die letzten Male hier gewesen war. Aber das waren ja eben Pflichtbesuche gewesen. Nicht dass ihre Eltern sie hierher befohlen hätten, weil sie ihre Ausbildung, ihr Studium mit bezahlten. Aber dennoch war es für Rebecca eine Art Pflicht gewesen. Nun aber war sie aus freien Stücken hier ...
Warum eigentlich?
Sie hatte darüber nachgedacht. Weil sie ihre Eltern sehen wollte? Eher nicht. Oder doch? Oder weil sie sich doch irgendwie verpflichtet sah? Eher auch das nicht.
„Rebecca?“ Die Stimme ihres Vaters drang an ihr Ohr.
Sie hatte nicht bemerkt, dass sie stehengeblieben war und auf den kleinen Teich zu ihrer Rechten starrte. Der war neu, der war damals nicht hier gewesen. Und sie sah auch eine kleine Steinbank, die sie nicht kannte. Und dass der Putz erst vor kurzem erneuert worden war. Nichts war es mit all den Rissen, die sie noch gekannt hatte.
Im Eingang stand ihr Vater auf der kleinen Treppe und blickte auf sie herab. Seine Haare waren etwas weißer und etwas dünner geworden, aber eigentlich hatte er sich nicht wirklich verändert. Natürlich trug er eine dunkle Hose, ein Hemd mit Manschetten und eine Krawatte. Wie immer zu Weihnachten. Oder zu anderen wichtigen Anlässen.
Und nun trat auch ihre Mutter in die Eingangstür, während ihr Vater etwas zur Seite rückte. Sie hatte sich für einen Hosenanzug entschieden, den Rebecca nicht kannte. Er stand, so musste die junge Frau anerkennen, ihrer Mutter ausgezeichnet.
„Möchtest du hereinkommen?“, fragte ihr Vater vorsichtig und versuchte ein etwas hilfloses Lächeln.
Die junge Frau bemerkte erst jetzt, dass sie ihre Eltern mit offenem Mund anstarrte. Es war, als ob sie sie noch nie gesehen hatte. Ja, sie waren etwas älter geworden, aber ihr war nie bewusst gewesen, wie attraktiv die beiden eigentlich als Paar wirkten. Wären sie nicht ihre Eltern, dann ... Ja, was eigentlich „dann“? Ihre Eltern, sie wirkten auf sie so fremd. Und doch irgendwie auch vertraut. Es grummelte in ihrem Magen.
„Natürlich“, schluckte Rebecca schließlich, stieg die Treppe empor und stand vor ihrer Mutter, die Handtasche in der linken Armbeuge, in der Hand die kleine Reisetasche, das etwas sperrige Geschenk unter dem rechten Arm. Und was nun? Wie begrüßt man Eltern, denen man eigentlich nichts zu sagen hat?
Die großen hellblauen Augen ihrer Mutter blickten sie an, und es war wie eine Ewigkeit, bis ihre Mutter ihr vorsichtig über den Arm strich. Auch ihr Vater wusste offenbar nicht, wie er seine Tochter begrüßen sollte, und so traten sie erst einmal in den Flur.
Rebecca erstarrte. Wohl erkannte sie noch das Haus, aber ansonsten war alles anders. Neue Möbel waren hier, eine neue Lampe, selbst das Treppengeländer in den oberen Stock war neu. Und als sie das Wohnzimmer betrat, fand sie auf Anhieb keinen einzigen Einrichtungsgegenstand, an den sie sich noch erinnern konnte.
„Ihr ... habt euch neu eingerichtet?“ Ihr Hals zog sich zusammen. Es war geschmackvoll. Es war hell und gekonnt. Es gefiel ihr sogar. Es war besser als die Möbel, die sie noch in Erinnerung hatte. Und doch war ihr für einen winzigen Moment so, als ob sie eine leichte Trauer empfand, dass nichts so war wie früher. Selbst der große Weihnachtsbaum stand in einer anderen Ecke als früher.
„Ja“, antwortete ihre Mutter. „Vor vier Jahren haben wir das endlich gemacht. Das wollten wir immer schon, aber irgendwie sind wir nie dazu gekommen. Gefällt es dir?“
„Das ist sehr schön.“ Rebecca bemerkte kaum, dass ihr Vater ihr das Geschenk abnahm und unter den Weihnachtsbaum legte. Denn sie hatte etwas entdeckt, das sie doch kannte. Fotos von ihr selbst. Sie standen auf einem kleinen Board zwischen den beiden großen Glastüren, die auf die Terrasse führten, und sie kannte sie alle. Sie als Baby, als Kleinkind im Kinderwagen, bei der Einschulung ... Ein Bild von ihrer Abiturfeier war ebenfalls da. Und auch ein ganz aktuelles Foto aus ihrem letzten Urlaub, das sie ihren Eltern vom Telefon aus zugeschickt hatte. Es zeigte sie vor einem Brunnen. Sie hatte ein knappes, luftiges Oberteil an und einen fast durchsichtigen leichten Sommerrock. Eine Kellnerin hatte das Foto gemacht, und sie mochte es sehr. Irgendwie berührte es sie, dass ihre Eltern es ausgedruckt und aufgestellt hatten.
„Das ist ein wunderschönes Foto, Rebecca“, sagte ihre Mutter neben ihr. Von irgendwoher hatte sie ein Glas gezaubert. „Einen Sherry? Du hast uns geschrieben, dass du Sherry magst? Wollen wir anstoßen?“
„Äh, ja.“ Rebecca griff nach dem Glas und blickte sich um. „Wer kommt denn noch?“
„Niemand“, gab ihr Vater zurück. „Wir wissen doch, dass dich die großen Runden mit allen alten Verwandten nie begeistert haben. Ich hoffe, du bist einverstanden, wenn wir nur zu dritt sind?“
„Natürlich.“ Was sollte sie auch sagen? Sie wusste ja selbst nicht, was sie sich eigentlich wünschte. Nervös nahm sie einen Schluck. Der Sherry war ausgezeichnet.
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