„Zur Hölle mit den Viechern”, fluchte McKenzie grob und bekam von der Seite her mit, dass Seumas bei diesem Ausbruch zusammengezuckt war. Sie hatte vergessen, dass auf den Inseln ein strenger Protestantismus vorherrschte. Fluchen galt da wohl als Todsünde und kam gleich nach Mord und Ehebruch.
„Kommen wir noch rechtzeitig? Kennen Sie sich mit den Gezeiten hier aus?”
„Beruhigen Sie sich. Die Flut kommt erst in einer Stunde. Was ist denn eigentlich passiert?”
McKenzie gab keine Antwort. Ungeduldig verfolgte sie, wie das letzte Schaf in die Heide abbog und die Strasse wieder freigab. Allerdings war die asphaltierte Strecke bald darauf zu Ende. Ein kleines, kaum lesbares Schild am Strassenrand kündigte die Ortschaft An Àird an, und sie kamen unverhofft auf einem Parkplatz vor einem Bauernhof zu stehen, der fast völlig von Autos verschiedenster Bauart zugestellt war. Ein Gatter versperrte den Zugang zu dem, was allem Anschein nach der Anfang des Weidewegs war. Nach Auskunft von Mrs McLeod für den Privatverkehr gesperrt. McKenzie blickte sich in dieser Wildnis um. Ausser einem halb zerfallenen Stall gab es nicht viel zu sehen. Auf dem Weideweg entfernte sich in einiger Distanz eine Gruppe von Wanderern Richtung Horizont.
„Können wir da einfach durchfahren?”
Seumas nickte kurz. Wahrscheinlich war es nicht das erste Mal, dass er den Zugang verbotenerweise passierte.
„Steigen Sie bitte aus und öffnen Sie mir das Tor, dann geht's schneller.”
McKenzie tat wie geheissen. Wenn sie nicht die restlichen Meilen zu Fuss laufen wollte, blieb ihr sowieso nichts anderes übrig.
Die Weiterfahrt auf dem Schotterweg gestaltete sich recht holprig, es ging leicht bergauf. Sie hatten die Gruppe Wanderer bald überholt und rumpelten auf der anderen Seite der Steigung wieder hinunter. Schon wieder ein Gatter. McKenzie seufzte. Wenn das so weiterging, würde sie den Tag damit verbringen, aus dem Auto aus- und wieder einzusteigen.
Sie hätte sich keine grossen Gedanken machen müssen. Der Feldweg endete nämlich unvermittelt im Niemandsland. Seumas zuckte nicht mit der Wimper und fuhr einfach auf der Heide weiter, wobei er darauf achtete, nicht in eines der vielen Moorlöcher zu geraten, mit denen der Boden übersät war. McKenzie wurde auf ihrem Sitz hin- und hergeschleudert. Wenigstens hatte sie den Haggis von Mrs McLeod nicht zum Frühstück gegessen, dachte sie zynisch, sonst hätte dieser Ausflug in einer mittleren Katastrophe geendet. Endlich hielt der Wagen an, der Motor wurde abgestellt, und Seumas drehte sich zu ihr um. „Von hier aus geht's nur noch zu Fuss.”
McKenzie hatte sich schlauerweise ihre Bergschuhe angezogen. Wie Mrs McLeod gesagt hatte, war der Weg zwar trocken, aber uneben, ging mal durchs Moor, mal durch die Heide, mal über angesammelte Felsen steil nach oben. Seumas ging ihr voraus. Er schien gut zu Fuss zu sein, und McKenzie musste sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten. Endlich hatten sie den höchsten Punkt erreicht, und vor ihren Augen tat sich das ganze Panorama auf – ein wunderschöner Blick auf das blaue Meer und auf die vorgelagerten Inseln.
„Das da vorn ist Eige und die grössere Insel rechts ist Rùm ”, erklärte Seumas, der sich neben sie gestellt hatte und sich verstohlen den Schweiss von der Stirn wischte. „Wo sollten Sie denn meinen Vater treffen? Am Leuchtturm?”
McKenzie riss sich von der grandiosen Aussicht los. Wenn auch offiziell im Urlaub, war sie jetzt doch zum Arbeiten hier. „Nein. Wir sollen ihn an einem Ort namens Camas Daraich treffen, offenbar eine kleine Bucht. Die muss irgendwo da links unten sein.”
McKenzie ging ein paar Schritte weiter und blickte über die Grasklippe nach unten. Sie sah türkisblaues Wasser und ein kleines Oval mit weissem Sand. „Das muss es sein.”
Von oben konnte man erkennen, dass am weiter entfernten Ufer der Bucht ein Boot vertäut lag. Dagegen war kein Mensch zu sehen, auch keine Leiche. McKenzie machte sich an den kurzen Abstieg, und Seumas folgte ihr. Unten bogen sie fast gleichzeitig um einen grossen Felsen, und da lag der Strand vor ihnen, glänzend im Licht der Sonne, umgeben von funkelndem Wasser und eingesäumt von Felsenklippen. „Wow!”, entfuhr es ihr wider Willen. „Was für ein idyllischer Badestrand!”
Seumas schien nicht beeindruckt. Er zeigte mit ausgestrecktem Finger auf einen Felsblock, auf dem ein Mann sass und auf sie wartete. „Da ist mein Vater. Bitte seien Sie nachsichtig, er ist sich soziale Kontakte nicht wirklich gewohnt.”
McKenzie dachte nicht weiter über diese merkwürdige Bitte nach, sondern machte, dass sie über die Felsen nach vorne kam.
Der Mann, ein finsterer Geselle mit langem Bart und stechenden Augen, angezogen in Ölzeug, das den Fischer auswies, darunter trotz der angenehmen Frühlingswärme ein dickes Wollvlies, machte keinerlei Anstalten aufzustehen.
„Sind Sie Patrick McDonald? Ich bin Inspektor McKenzie, Polizei Schottland.” McKenzie versuchte es zuerst mit Freundlichkeit.
Der Mann nickte. „ Aidh, Pàdraig MacDhòmhnaill a th' orm .”
McKenzies Herz sank. Ihr Gälisch war schon sehr eingerostet. Obwohl sie es wie alle an der Westküste in der Schule gelernt hatte, brauchte sie es kaum im Alltag. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, jetzt wieder Schulkenntnisse hervorkramen zu müssen. Aber sie wollte es sich nicht gleich zu Beginn mit dem Alten verscherzen. Die Warnung von Seumas kam ihr wieder in den Sinn. Sie blickte zurück und sah, dass ein leichtes Lachen über dessen Gesicht huschte.
„ Madainn mhath !”, brachte sie hervor. „ Ciamar a tha sibh? 'S mise Charlotte NicCoinnich. 'S e neach-sgrùdaidh a' phoileis a th' annam, à Geàrrloch. Càit a bheil an duine marbh? ”
Der Alte hatte sie nicht aus den Augen gelassen. Jetzt nickte er langsam, wie wenn sie eine geheime Prüfung bestanden hätte. „Sie kommen den ganzen weiten Weg von Gairloch her, um die Leiche zu besichtigen, Inspektor McKenzie?”
McKenzie atmete auf. Sie war erleichtert, dass der Mann mit ihr Englisch zu sprechen gewillt war. Sie hatte sich nie wirklich für den Sprachenstreit interessiert, der in den letzten Jahrzehnten auf der politischen Agenda immer mehr in den Fokus gerückt war. Seit dem geänderten Gesetz im Jahr 2005 galt Gälisch zwar offiziell als zweite Sprache Schottlands, aber nur ein verschwindend geringer Teil der Bevölkerung bezeichnete sie als Muttersprache. Sie hatte allerdings auch gehört, dass es gerade auf den westlichen Inseln eine starke Bewegung gab, die sich für die Gleichstellung der alten Kultur einsetzte. Glücklicherweise hatte sie es im Moment nicht mit einem besonders eifrigen Bewohner der Gàidhealtachd zu tun, welcher sich womöglich kurzerhand weigern würde, Englisch zu sprechen. Es schien, dass der Fischer mit ihrem mühsam gestotterten Gruss zufrieden war und bereit, Auskunft zu erteilen.
„Ich war gerade in der Gegend. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Wo ist denn diese Leiche? Ich hatte verstanden, dass wir uns beeilen müssten, damit wir der Flut zuvorkommen.”
McDonald stand auf und ging schweigend ein paar Meter zur Seite. Im Schatten der Felsen lag ein dunkles Bündel auf dem weissen Sand. Beim Näherkommen entpuppte es sich als menschliche Gestalt. McKenzie bedeutete Vater und Sohn zurückzubleiben und blickte sich um. Auf dem Sand gab es nur ein Paar Fussspuren, die zur Leiche hin- und wieder von ihr wegführten.
„Sind diese Fussabdrücke von Ihnen?”
McDonald nickte. „Hab ihn da so liegen sehen und hab nachgesehen, ob man noch etwas machen kann. Aber der ist mausetot, wohl ertrunken. Danach hab ich die Polizei angerufen.”
„Wie? Haben Sie ein Handy? Gibt es hier Empfang?”
Der Fischer zog anstelle einer Antwort ein vorsintflutliches Modell eines Mobiltelefons aus der Hosentasche und hielt es hoch. McKenzie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Toten zu, seinem Körperbau nach gewiss ein Mann, obwohl sein Kopf von langen, vom Salzwasser verklebten Haaren bedeckt war. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Sand, eine grosse, kräftige Gestalt. Von hinten sah man keine sichtbare Verletzung. Gekleidet war er in Jeans und einen dunklen, schweren Pullover, der mit Wasser vollgesogen und grünklebrigem Seetang behaftet war.
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