Sergeant McKinnon klang leicht zerknirscht. „Ich weiss, Dan Gilchrist hat mir gesagt, du hättest Urlaub.” Sie hüstelte. „Eigentlich wäre die Wache in Portree für die Sache zuständig. Aber Inspektor Craig hat sich letzte Woche das Bein gebrochen und ist krankgeschrieben.”
„Ist das Alice Craig? Ich kenne sie noch von der Polizeischule. Tut mir leid für ihr Bein. Was ist mit den Kollegen aus Lochalsh? Oder kann nicht einfach ein Constable aus Portree die Sache angehen?”
McKinnon pustete hörbar durch die Leitung. „Charlotte. Du weisst, dass die Wache in Lochalsh mit anderen Aufgaben ausgelastet ist. Und jemand Subalternes von Skye abzukommandieren, ist nun wirklich keine Option, wenn wir eine Expertin sozusagen vor Ort haben.”
McKenzie griff sich an die Stirn. Dass die Wache in Lochalsh sich in letzter Zeit nicht mit Ruhm bekleckert hatte, während sie selbst vor ein paar Jahren quasi im Alleingang einen mysteriösen Mordfall aufgeklärt hatte, mochte die Anfrage aus Inverness vielleicht erklären. Aber sie war nun mal im Urlaub und hatte nicht die geringste Lust, sich um eine Leiche zu kümmern. Sie wollte dies McKinnon gerade auseinandersetzen, als diese, ohne ihr Gelegenheit für Einwände zu geben, die Einzelheiten des unglücklichen Funds darlegte.
„Dieser Tote, männlich, jung, wurde heute Morgen am Strand am Point of Sleat gefunden, vermutlich ertrunken. Es geht ja nur darum, dass du da rasch hinfährst und nachschaust, ob an dem Todesfall etwas Verdächtiges ist. Die Person, die ihn gefunden hat – ein Fischer namens Patrick McDonald – ist noch vor Ort. Aber die Flut soll im Steigen begriffen sein, und die Leiche muss wohl möglichst rasch vom Strand weggebracht werden. Bis wir jemanden von Inverness schicken können, sind die meisten Spuren und auch der Tote weg. Der Helikopter ist unterwegs in der Nähe von Dingwall, zu irgendeiner Evakuierung. Das kann noch eine Stunde oder mehr dauern, bis wir den kriegen können. Du wärst schneller vor Ort - du bist doch schon irgendwo in der Nähe, hat mir Gilchrist gesagt.”
McKenzie resignierte. Sie würde mit Dan Gilchrist noch ein ernstes Wörtchen sprechen. Wie konnte er einfach so ihre privaten Angelegenheiten in die Welt hinausposaunen. Aber wahrscheinlich hatte er keine andere Wahl gehabt, wenn die Vorgesetzten Auskunft verlangten.
„Na schön. Point of Sleat, sagst du? Da wollte ich sowieso hin, allerdings erst am Nachmittag und zu Fuss. Ich nehme nicht an, dass ihr von irgendwoher ein Gefährt besorgen könnt, das mich dahin bringt? Ich habe meinen kleinen Fiat in Gairloch gelassen.”
McKinnon lachte, empfahl ihr, ihre Pflicht zu tun und – Urlaub hin oder her – sich selbst zu organisieren. „Und wenn du da angekommen bist, vergiss nicht, uns über deine Erkenntnisse zu informieren, und zwar zeitnah!”
„Nur die Wache in Inverness, oder darf ich mich wieder mit DCI Huckley rumschlagen?”
McKinnon lachte noch einmal. Die Fehde zwischen McKenzie und dem Geheimdienst-Mann war bei der schottischen Polizei in den Highlands wohlbekannt. Mit guten Wünschen legte sie frohgemut auf, im Wissen, dass die Sache bei McKenzie in den besten Händen war.
McKenzie beeilte sich, aufzustehen und sich frisch zu machen. Sie ging auf die Suche nach ihrer Wirtin und fand diese in der Küche, wo sie mit aufgerollten Ärmeln eine Pastete mit geheimen Zutaten für das Abendessen vorbereitete.
„Kennen Sie einen Patrick McDonald, Fischer, hier in Sleat?”
„ Aidh . Der gute alte Pàdraig . Warum?”
„Ich soll ihn am Point of Sleat treffen. Wie komme ich schnellstmöglich dahin? Gibt es eine Strasse? Kann man mit dem Wagen hinfahren?”
„Nun ja. Die Strasse hört bei dem Parkplatz von An Àird auf. Ein Weideweg für landwirtschaftliche Fahrzeuge führt weiter, ist aber für den Publikumsverkehr gesperrt. – Woher kennen Sie denn Pàdraig ?”
„Ich habe soeben einen Anruf von unserer vorgesetzten Stelle in Inverness erhalten. Offenbar hat Mr McDonald einen Verunglückten am Strand gefunden, und da Inspektor Craig von der Wache in Portree im Moment verhindert ist, ich dagegen passenderweise vor Ort bin, hat man mich für die Sache eingeteilt.”
„Aha. Wer ist denn verunglückt?”
McKenzie wurde ungeduldig. „Ich habe keine Ahnung. Wie komme ich jetzt so schnell wie möglich dahin? Kennen Sie jemanden, der mich dahinfahren könnte? Ich möchte vor der Flut am Fundort ankommen.”
Màiri MacLeod nickte eifrig. „Da müssen Sie sich wirklich beeilen. Lassen Sie mich nur rasch die Hände waschen, dann ruf ich meinen Patensohn Seumas an. Er kann Sie in seinem Jeep hinfahren. Es sind kaum zehn Meilen bis dahin.”
Während sich Mrs MacLeod endlich in Bewegung setzte, klappte McKenzie am Tisch den mitgebrachten Laptop auf. Sie suchte die Telefonnummer der Polizeistation in Portree raus und rief von ihrem Handy aus die Wache an. Inspektor Craig war nicht in ihrem Büro, aber der diensthabende Beamte versicherte ihr, die Nachricht umgehend weiterzuleiten, und wünschte ihr viel Glück. Offenbar hatte ihm McKinnon aus Inverness bereits gemeldet, dass die Kollegin aus Gairloch aushilfsweise den Fall übernehmen würde.
McKenzie packte eine kleine Tasche zusammen. In weiser Voraussicht hatte sie auch Handschuhe, Taschenlampe und Absperrband in den Urlaub mitgenommen, man wollte ja auf alle Eventualitäten vorbereitet sein, und in ihrem Beruf war man nie ausser Dienst. Sie ging nach draussen, wo schon ein junger, wetterfest angezogener, dunkelhaariger Mann vor einem Geländewagen auf sie wartete. „Sie sind die Polizistin vom Festland?”
„Inspektor Charlotte McKenzie. Von Gairloch. Sind Sie Seumas?”
Als er nickte, ging sie zur Beifahrertür und stieg in den Wagen ein. „Sie fahren. Beeilen Sie sich.”
Der junge Mann machte nicht viel Federlesens, setzte sich hinters Steuer und röhrte los. Jedenfalls solange der Weg einigermassen breit war. Bald jedoch wurde die Strasse enger und unübersichtlich. Seumas schien allerdings der Aufgabe gewachsen zu sein, die vielen Kurven störten ihn nicht. McKenzie dagegen brach der Schweiss in den Achselhöhlen aus, wenn der Junge wieder flott aufs Gaspedal drückte. Gerade fuhr der Wagen eine Steigung hinauf, man sah über die Motorhaube direkt in den Himmel. Wenn jetzt Gegenverkehr kam… Der Wagen brauste auf der anderen Seite wieder hinunter, vor ihr erschienen neue Kurven. Das war gerade noch einmal gut gegangen.
McKenzie gab sich einen Ruck. Sie wollte sich vor dem Mann keine Blösse geben. „Wie heissen Sie eigentlich mit vollem Namen? Und was machen Sie so im Leben?”
„Ich bin Seumas McDonald. Màiri ist meine Patentante.”
„Das hat sie mir gesagt.” McKenzie blickte angestrengt nach vorn. Ganz konnte sie sich doch nicht entspannen. „Sie leben in Ardvasar?”
„Ja, ich arbeite in den Gärten von Schloss Armadale.”
McKenzie zuckte leicht zusammen. Der letzte Gärtner, mit dem sie es näher zu tun bekommen hatte, hatte sich als kaltblütiger Mörder entpuppt. Ein Omen? Quatsch! Sie durfte keine Vorurteile haben, schliesslich stand noch gar nicht fest, dass es sich beim Toten am Strand um das Opfer eines Kapitalverbrechens handelte. Womöglich war es nur ein Unfall.
„Sie sind auch ein McDonald? Sind Sie etwa mit Patrick McDonald verwandt? Dem Fischer?”
Seumas zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Das ist mein alter Herr.”
„Aha.” Da hatte sie wieder einmal Glück gehabt. Leute, die Leichen fanden, rückten meist schnell ins Zentrum der Ermittlungen, und nun sass sie ausgerechnet mit dem Sohn im Wagen. „Was hat Ihr Vater denn heute am Point of Sleat gemacht?”
Sie hielt erschrocken die Luft an. Seumas hatte den Wagen abrupt abgebremst, sodass sie in ihren Gurten nach vorne geschleudert wurde. Eine Herde Schafe überquerte gemütlich die Strasse. Der Hirte, der ihr samt Hund folgte, hatte es nicht eilig.
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