McTavishs Gesicht hatte sich vollends verfinstert. Er schien die kolossale Blamage persönlich zu nehmen. Immerhin hatten die Tickets für dieses Match über hundert Pfund gekostet, und die Zugfahrt im Erstklassabteil samt Übernachtung in London nach dem Spiel war auch nicht ganz billig gewesen. Er hatte sich seinen ersten Wochenend-Ausflug mit Moira anders vorgestellt. Verwöhnen hatte er sie wollen, ihr London zeigen und sie einführen in die spezielle Faszination dieses einzigartigen Spiels. Und jetzt liess ihn seine Mannschaft so fürchterlich im Stich?
Moira Watson zupfte ihn am Ärmel. „Ist doch nicht so schlimm, Scott. Das ist doch nur ein Spiel. Lass uns einfach unseren Aufenthalt hier geniessen.”
Scott verschluckte sich beinahe. Sein Husten dauerte aber nur genau so kurz wie das Passspiel zwischen den Blauen unten auf dem Feld.
„Das ist keineswegs nur ein Spiel, Moira”, brachte er nach ein paar Sekunden heiser hervor. „Das ist der Calcutta-Cup!”
Wie erklärt man diesen elementaren Unterschied einem Neuling? Er hustete noch einmal und unternahm einen neuen Anlauf: „Dies ist das älteste Rugbytreffen überhaupt, fast einhundertfünfzig Jahre alt, und für uns das wichtigste. Es ist unseren Jungs in dieser Zeit erst viermal gelungen, hier in London zu gewinnen, und dabei haben wir heute eine echte Chance, den Engländern in ihrem eigenen Stadion den Pokal wegzuschnappen und ihn wieder mit nach Hause zu nehmen!” Er machte eine ungeduldige Bewegung zum Spielfeld hin. „Ausserdem sind das da unten unsere Erzrivalen. Gegen die müssen wir einfach gewinnen, oder wenigstens kämpfen bis zum Umfallen. Und jetzt schau dir diese Katastrophe an!”
Er hatte die Worte noch nicht zu Ende gesprochen, als der schottische Verbindungshalb, der sich bisher hauptsächlich durch Fehlwürfe ausgezeichnet hatte, von einem missglückten Pass der Weissen mitten im Niemandsland profitierte und in einem für alle unerwarteten Energieanfall losstürmte. Verfolgt von vier englischen Verteidigern sprintete er über die ganze Länge des Spielfelds. Vollkommen ausgepumpt, gelang es ihm mit letztem Einsatz, den Ball hinter die Linie ins Malfeld der Gegner abzulegen. Die schottischen Zuschauer auf den Rängen applaudierten erfreut. Damit hatte man nun wirklich nicht rechnen dürfen. Aber einem geschenkten Gaul schaute man nicht ins Maul, stattdessen warf man sich Blicke voll aufkeimender Hoffnung zu. Endlich ein geglückter Spielzug, der erste für die schottische Mannschaft in diesem Kampf.
McTavish war ebenfalls von seinem Sitz aufgesprungen, sein Gesicht strahlte. „Na, wer sagt's denn? Das ist Robert McIntyre! Ich war immer sicher, dass der Mann Talent in sich hat. Absolut fabelhaft! Nur weiter so, jetzt packen wir sie!”
Moira wollte etwas bemerken, aber ihre Worte gingen im fortwährenden fröhlichen Jubel der Schotten unter, die durch den unerwarteten Versuch Auftrieb erhalten hatten. Offensichtlich spielte es für echte Fans des Spiels keine Rolle, dass man immer noch hoffnungslos hinten lag. Wichtig war nur, dass der Spielstand auf der Tafel nicht mehr bei null stand.
Einen Augenblick später pfiff der Schiedsrichter die erste Halbzeit ab, und die Leute erhoben sich zufrieden von ihren Sitzen, um das verdiente Pausenbier zu organisieren. Das Spiel war nach menschlichem Ermessen entschieden. Die einheimischen Fans waren gut gelaunt und gewillt, die Gäste höflich zu foppen. Die zweite Halbzeit würde für die Platzherren entspannt werden.
McTavish erhob sich, um für sich und Moira etwas zu essen zu holen. Wenn man schon verlor, dann wenigstens mit Stil und sicher nicht hungrig. Ob Moira wohl bereute, dass sie zum Spiel mitgekommen war? Sie hatte ihm auf der langen Fahrt im Caledonian Sleeper gestanden, dass sie noch nie ein Rugbymatch angeschaut hätte und dass die Regeln ihr absolut unverständlich waren. Nun, wenigstens in dieser Hinsicht hatte er ihr ein bisschen imponieren können. Er hatte selbst als Flügelstürmer gespielt und konnte jetzt mit seinem Wissen glänzen. Er hatte überzeugend darlegen können, warum der Schiedsrichter das Spiel zuweilen unterbrach und es anschliessend zu einem Gedränge kam. Trotzdem, dachte er, hätten sich die Jungs ein bisschen mehr anstrengen können. Das Zu-schauen hatte ihn richtig geschmerzt.
Gedankenverloren bezahlte McTavish die Pizza beim Imbissstand draussen und kehrte ins Stadion an seinen Platz zurück, gerade rechtzeitig, um den Anpfiff zur zweiten Halbzeit mitzuerleben. Das Spiel ging weiter.
In die träge Zufriedenheit der englischen Fans auf den Rängen, die sich auf eine vorentschiedene zweite Halbzeit gefreut hatten, schlich sich ein langsam anschwellendes Raunen. Verwunderung zeigte sich auf der einen oder anderen Stirn. Was ging da unten auf dem Feld bloss vor?
Was immer der schottische Trainer in der Kabine vor dem Seitenwechsel seinen Spielern eingebläut hatte, sie waren nicht wiederzuerkennen. Als hätten sie in der Pause einen Zaubertrank getrunken, sprühten sie nun vor Kampfgeist. Körper prallten auf Körper, ein gelungenes Tackling nach dem anderen riss die gegnerischen Spieler von den Füssen, der Ball flog endlich präzise von Hand zu Hand. Das Spiel verlagerte sich plötzlich in den englischen Abwehrraum. Mit hartnäckiger Arbeit und sturer Willenskraft kamen die Schotten immer näher an das englische Malfeld heran. Sieben Minuten nach Wiederanpfiff angelte sich McIntyre an der linken Seitenlinie erneut den Ball, sprintete los und legte seinen zweiten Versuch in Folge.
Die rotgefärbten Gesichter blickten verdutzt auf das Spielfeld, während auf den blauweissen begeisterte Hoffnung aufkeimte. Die Fans klatschten sich gegenseitig ab, und ein Chor aus tausend Kehlen fiel mit der ,Blüte Schottlandsʼ ein: „Wann treffen wir auf euresgleich…” Das Lied schwappte in einer von Fanchören angestimmten gewaltigen Welle rund um das ganze Stadion, und Moira sang den Refrain begeistert mit: „…die ihn nach Haus gejagt, dass er's bereut.” Der eine oder andere Dudelsack hatte es auch ins Publikum geschafft und trug die Melodie mit. Moira atmete tief ein. Sie war keine Nationalistin, doch sie liebte das Lied, das ursprünglich ein Folksong gewesen war. Einige ihrer Landsleute lehnten den Text als anti-englisch ab, aber Moira fand, dass er das Wesen ihres Heimatlands ziemlich gut erfasste, ohne dass sie deswegen ihre Nachbarn als Feinde betrachten musste. Und die Atmosphäre im Stadion hatte sie gepackt, sie war ein Teil dieser Fangemeinschaft, die überschäumende Freude um sie herum ergriff auch sie. Was war schon unmöglich bei diesen Kerlen, wenn sie sich auf ihre Stärken besannen?
Auf englischer Seite überwog noch nachsichtiger Spott. Schliesslich war es bisher keiner Mannschaft im internationalen Rugby gelungen, von einem solchen Rückstand zurück ins Spiel zu kommen, kein Grund also, sich grössere Sorgen zu machen.
Aber die Schleusen waren geöffnet. Völlig entfesselt legten die Schotten sämtliche Hemmungen ab, griffen die Gegner von hinten an und legten in der nächsten halben Stunde vier weitere Versuche zur magischen, kaum mehr für möglich gehaltenen Führung. Achtunddreissig zu einunddreissig.
Das Twickenham-Stadion versank in Schockstarre. Zum ersten Mal seit zwei Generationen stand England zu Hause kurz vor einer Niederlage gegen Schottland. Prinz Edwards Streitmacht auf dem Rasen kam gewaltig ins Wanken. Die blauen Spieler dagegen gewannen mit jedem gelungenen Spielzug an Selbstbewusstsein und jagten den Gegner in die heimische Platzhälfte, auf dass er seine Nachlässigkeit in der zweiten Spielhälfte bereue.
Moira blickte McTavish von der Seite her an. Sie kannte ihn noch nicht lange genug, um mit allen seinen Interessen vertraut zu sein, und so entdeckte sie jeden Tag neue liebenswerte Seiten an ihm. Im Moment wirkte er wie ein kleiner Junge, der ein unerwartetes Geschenk erhalten hatte. Das Glück leuchtete ihm aus dem Gesicht, er feuerte seine Mannschaft aus voller Kehle an.
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