Ein kleiner Teil von mir hoffte, als ich mich zu später Stunde auf den Heimweg begab, dass ich erstens Florian nie wieder treffen müsse und zweitens in der kommenden Nacht meinem Fast-Bräutigam begegnen würde. Beides war ungefähr in gleichem Maße unrealistisch.
Ich wohne im obersten Stock eines fünf Parteien-Hauses ohne Aufzug. Die dazugehörige Straße befindet sich in einem etwas heruntergekommenen Teil unserer Kleinstadt und zeichnet sich durch Überalterung und einen hohen Ausländeranteil aus. Doch diese Wohnlage war das gewesen, was wir uns nach Paps Tod hatten leisten können. Außerdem hatte sich das berufliche Betätigungsfeld meiner Mutter im Prinzip direkt vor unserer Haustür befunden.
Obwohl sich mir später mehrfach Gelegenheiten boten, in eine hochwertigere Umgebung zu ziehen, hänge ich an dieser Wohnung. Sie ist konkurrenzlos günstig und meine Mitmieter gehören fast zur Familie. Ich entdecke zumindest ständig Aufmerksamkeiten vor meiner Wohnungstür. Im Gegenzug übernehme ich kleine Besorgungsdienste und putze samstags das Treppenhaus durch. Als Dankeschön habe ich freien Eintritt in der Eisdiele meiner italienischen Untermieter, die von deren erwachsenen Kindern betrieben wird.
Okay, Familienintegration hat auch Nachteile. Die rumänische Oma, deren Wohnung im zweiten Stock liegt, versucht mich seit Jahren unbeirrbar mit ihrem Enkelsohn aus Bukarest zu verkuppeln, damit dieser die deutsche Staatsbürgerschaft erhält und bei uns studieren darf. Sie mochte Florian von Anfang an nicht und prophezeite mir in schöner Regelmäßigkeit eine düstere Zukunft an seiner Seite.
Mein Ex fing mich schwankend vor der Haustür ab. Nachdem er mich in eine Ecke gedrängt und beschimpft hatte, begann er zu grabschen. Dabei lallte er etwas von Fehlinvestition und Auszahlung mit Zinsen. Er macht seinen Job in der Bausparkasse schon recht lang.
Zum Glück war er dermaßen betrunken, dass er keine ernsthafte Gefahr darstellte und ich ihn abschütteln konnte. Eigentlich tat ich sogar ein bisschen mehr als das. Der große Bruder einer Freundin aus meinem ehemaligen Jugendkreis war lange Jahre im Jiu-Jitsu gewesen und hatte mir an einem sonnigen Nachmittag einige praktische Kniffe beigebracht, die man als alleinstehende Frau gut gebrauchen kann. Durch Florian hat sich der lehrreiche Unterricht endlich bezahlt gemacht. Morgen würde sich mein Ex vermutlich fragen, woher seine schlechte Verfassung und die körperlichen Male stammten. Doch ein paar Erinnerungshilfen konnten kaum schaden und sollten ihn in Zukunft von weiteren, alkoholisierten Eskapaden abhalten.
Und dann gab es sogar noch eine unerwartete Zugabe, geliefert von einem übergewichtigen, in Feinripp-Unterhemd und Jogginghose gekleideten Senior. Herr Maifeld führt gegen eine reduzierte Mietgebühr Hausmeistertätigkeiten bei uns im Gebäude durch. Weil er diesen Job sehr ernst nimmt und sein Tätigkeitsfeld zudem weit fasst, hatte er sich zur Unterstützung einen Minigolf-Schläger mitgebracht. Bestimmt wird dieser seit Jahren irgendwo schmerzlich vermisst. Gekonnt und recht eindeutig schwang er ihn in der Hand. Auch ein alkoholisiertes Hirn versteht eine solche Sprache.
Als Florian endlich schimpfend um die Ecke verschwunden war, begleitete mich mein glatzköpfiger Schutzengel schweratmend bis direkt vor meine Wohnungstür. Obwohl ich ihm ununterbrochen beteuerte, dass mir nichts passiert sei, würden morgen alle im Haus Bescheid wissen, unter Garantie.
Mehr oder weniger unbeschadet in meinen vier Wänden angekommen, schloss ich sorgsam ab und empfand echte Dankbarkeit, dass es nie zu einem Schlüsselaustausch zwischen Florian und mir gekommen war.
Trotzdem brauchte ich eine ganze Weile, bis sich meine Nerven beruhigt hatten. Rein therapeutisch bemühte ich darum meinen Einfallsreichtum, um im Schlaf ins vorige Jahrhundert enteilen zu können, in dem die Welt samt ihren Männern noch in Ordnung war. Doch was den Tag über ohne Probleme funktioniert hatte, scheiterte jetzt kläglich. Ich erwachte vermeintlich traumlos am nächsten Morgen.
Dafür begegnete mir noch vor der ersten Kaffeepause ein vorwurfsvoller Blick aus grünen, von perfektem Mascara umhüllten Augen. Als Mona auf dem Weg zur Toilette an meinem Schreibtisch vorüberschlenderte, konkretisierte sich dieser Eindruck, indem sie: „Ich bin voll enttäuscht von dir“, zischte.
Florian schien das unstillbare Bedürfnis verspürt zu haben, sich bei ihr auszuheulen, bevor er seinen Kummer in Alkohol ertränkt hatte, um mir danach, von jeglichem guten Benehmen enthemmt, an die Wäsche zu gehen. Sein angestammter Sitzplatz neben dem begehrten Fenster des nahegelegenen Büros war heute Morgen verwaist, wie ich mit stiller Genugtuung feststellte. Vermutlich kühlte er gerade wesentliche Teile seines Unterleibs.
Bis zur Mittagspause konnte ich Mona hinhalten, dann zerrte sie mich hinter sich her in die Kantine. Weitere Interessenten, die sich uns anschließen wollten, ihr Freund Jochen vorne dran, grenzte sie kategorisch aus.
„Wir kennen uns seit der Grundschule…“, begann sie, Berge von Salat vor sich aufhäufend, weil sie zum gefühlt zwanzigsten Mal in diesem Jahr auf Diät war. Dabei besitzt sie schlimmstenfalls Normalgewicht. Für einen neidisch-hungrigen Blick auf meine Lasagne reichte es dennoch.
Wenn sich meine Freundin auf gemeinsame Kindheitserlebnisse beruft, ist das kein gutes Zeichen. Ich wappnete mich für Unangenehmes. Mona kann nämlich kultiviert blättrige Kost in sich reinschieben und einen parallel wie eine Verräterin dasitzen lassen, ohne Salatsoße zu verspritzen oder ein Wort zu sprechen. Leider war nicht meine fetttriefende Lasagne die Ursache ihres Unmutes. Das hätte ich leicht verschmerzt.
„Wie konntest du mir vorenthalten, dass du dich verliebt hast?“, kam es empört von ihren Lippen, nachdem ich mich minutenlang jeglicher verbalen und nonverbalen Kommunikation entzogen, mit Inbrunst meinem Essen gewidmet und so gut es ging die Ahnungslose gespielt hatte.
Augenblicklich bekam ich Mühe, zu schlucken. Ich kaute extra lange, was mir ein bisschen Zeit zum Denken verschaffte. Aber irgendwann ist ein Bissen weicher Nudelteig mit Hackfleischsoße ausgereizt und man muss seinen Wortschatz und die Gehirnzellen bemühen.
„Wie kommst du denn darauf?“ war das kreativlose Ergebnis meines Kau- und Denkmarathons. Ich sollte mir demnächst eine andere Notfall-Floskel ausdenken. Sie verliert allmählich ihre Wirkung.
„Schau dich im Spiegel an, Mädchen. So sieht man nicht aus, wenn man frisch mit jemandem Schluss gemacht hat, ohne dass ein Neuer im Spiel ist.“ Mona besitzt in diesem Punkt etwas Erfahrung. Jochen ist mit Abstand ihr bisher langmonatigster Freund. Für sie spielen klassische Werte, wie ein Familienmodell, das aus einem verheirateten Paar samt den genetisch dazu passenden Kindern besteht, keine wirkliche Rolle. Sex gehört für sie so unverkrampft zum Leben, wie ihr Yoga-Kurs mittwochabends. Warum sich unsere Freundschaft trotz der unterschiedlichen Lebensphilosophien derart lange gehalten hat, ist eigentlich ein Rätsel. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Mona gleichzeitig offen, geradlinig und hundert Prozent treu ist, zumindest mir gegenüber.
„Da gibt es niemand Konkreten, äh ich meine Reellen“, probierte ich eine letzte Ausflucht, aber keine sonderlich ernstzunehmende, weil ich nebenbei gegen ein akut aufsteigendes, pubertäres Kichern ankämpfen musste. Wie jedes Mal, wenn ich an bestimmte Aspekte meines zurückliegenden Traumes dachte.
„Erzähl mir keinen Mist. Ich kenne dich besser als jede andere. Außerdem weiß ich zufällig, dass man als Christ nicht lügen darf.“ Mona hat es zwar selbst nicht mit Religion, was aber keinesfalls heißen soll, dass sie nicht bestens Bescheid wüsste. „Entweder du kiffst inzwischen, was ich mir bei dir schwer vorstellen kann oder da ist ein Mann im Spiel, der interessanter Weise nicht Florian heißt.“
Читать дальше