Genau in dem Moment öffnete sich die Tür und ein mir völlig unbekannter Mensch betrat den Raum. Gut an ihm fand ich, dass er in keiner Weise an Florian erinnerte. Als schlecht erschien mir, dass dieser jemand wahrscheinlich mein Bräutigam war, denn er trug einen gediegen wirkenden Anzug, schaute mich prüfend an und sagte: „Wir hätten uns besser im Sommer vermählt, Marie. Ende Oktober ist dieses Gemach merklich zu klamm.“ Seine Stimme klang voll, dunkel und unmissverständlich, trotz der althergebrachten Wortwahl.
Meine Bedenken verwandelten sich im Rekord-Tempo zur handfesten Besorgnis: Ich heiße nicht Marie, sondern Ronja und besitze davon abgesehen keinerlei Interesse, die Nacht mit einem Fremden zu verbringen, nicht mal im Schlaf. Dies wäre folglich ein guter Zeitpunkt, um aufzuwachen. Doch mein Steuermechanismus versagte, wie üblich. Ich habe es bisher noch nie geschafft, einen Traum eigenmächtig zu beenden. Vermutlich musste ich so lange durchhalten, bis die Synapsen in meinem Gehirn das erlösende Signal gaben oder die REM-Schlafphase endete.
Eine zusätzliche Herausforderung war, dass ich gerade weder sprechen, noch mich bewegen konnte. So etwas passiert in Träumen ja öfter: Man versucht wegzurennen und kommt nicht von der Stelle. Dadurch wurde ich zur hilflosen Zuschauerin verdammt. Mein Zimmermitbewohner begann sich nämlich ungeniert auszuziehen und nahm mir damit meine letzten, ohnehin irrationalen Hoffnungen. Erst kam der Sakko dran, dann das Hemd. Nachdem er beides sorgsam und gekonnt knitterfrei über die Stuhllehne der zweiten Sitzgelegenheit gehängt hatte, trennte er sich von seinem Unterhemd.
Jetzt stand er bereits mit nacktem Oberkörper da und mir blieb nichts übrig, als ihn die ganze Zeit anzustarren, wie ein Kaninchen die Schlange. Mein Körper verweigerte mir den Gehorsam.
Was man bei trübem Kerzenschein erkennen konnte, besaß mein mir unbekannter Bräutigam ungewöhnlich bleiche Haut. Von diesem Makel abgesehen, machte er aber einen robusten, keineswegs unsportlichen Eindruck. Für Florians schmächtige Statur mochte meine Wehrhaftigkeit zwar reichen, diesem testosterongesättigten Hünen gegenüber befand ich mich jedoch eindeutig im Nachteil.
Obwohl ich mich nicht rühren konnte, schaffte ich es innerlich zu zittern.
Als es ans Ausziehen der Hose ging, schlossen sich meine Augen endlich, wie auch immer das zugegangen sein mochte. Nun war ich schwerpunktmäßig auf mein Gehör angewiesen, was sich keineswegs beruhigend auf meinen Zustand auswirkte. Ich vernahm das Rascheln weiterer Kleidungsstücke, dann plätscherte Wasser. Das Geräusch kam aus der Nische neben dem Kleiderschrank. Dort befand sich, wie ich in meiner ersten Raumanalyse festgestellt hatte, eine altmodische Waschschüssel samt dem dazugehörigen Wasserkrug auf einer niederen Anrichte. Ich durfte somit annehmen, dass sich mein vermeintlicher Ehepartner gerade wusch. Immerhin schien er reinlich zu sein.
Jetzt hörte ich ihn barfuß durchs Zimmer tappen.
Ohne jegliche Vorwarnung zogen sich die Vorhänge des Betthimmels zu. Das unerwartete Geräusch ließ mich mit einem unterdrückten Aufschrei hochfahren, das Federbett wie ein Schutzschild an mich gepresst. Meine Nerven lagen inzwischen mehr oder weniger blank. Der unerwartete Adrenalinschub bewirkte zudem, dass sich meine Augen wieder öffneten und in der nächsten Sekunde vor Schreck weiteten, als sie eine mächtige Gestalt in weißem Gewand neben mir erblickten. Wie ein geisterhaftes Wesen aus einem unterbelichteten Schwarzweiß-Film. Ein erwachsener Mann, der ein bis knapp zu den Knien reichendes Hemd als Nachtwäsche trug, war absolutes Neuland für mich. Eigentlich fehlte bloß noch die passende Zipfelmütze. Mir ging allerdings der Humor ab, um diesen Anblick lustig finden zu können.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Es dünkt mir nur sinnvoll, bei dieser Kälte wenigstens die Zugluft aus unserer Lagerstatt zu verbannen.“ Er nahm mit der einen Hand den Leuchter vom Nachttisch und schob mit der anderen die restlichen Stoffbahnen zusammen, so dass eine Art Zelt entstand, in dessen Innern ich mich befand, allein… momentan… noch.
Der Gedanke an Flucht drängte sich mir regelrecht auf. Weil ich jedoch nicht wusste, ob ich auf eigene Initiative überhaupt einen Finger krümmen konnte, er mich mit Sicherheit bereits vor der Zimmertür eingeholt hätte und ich keine Ahnung besaß, was mich hinter diesem Raum erwartete und in Träumen so ziemlich alles möglich sein kann, verwarf ich die Idee rasch wieder. Ein weiteres, Flucht hemmendes, Argument war, dass ich nur dieses kratzige, völlig unzureichende Spitzenteil ohne jegliche Schutzunterwäsche trug. Das entspricht keinesfalls meinen sonstigen Gepflogenheiten. Ich bin eine konsequente Befürworterin von Schlafanzügen.
Der Kerzenständer wurde nun auf dem Nachttisch der anderen Bettseite abgestellt. Dort blieb der weiße Riese stehen und musterte mich, als müsse er überlegen, was er als Nächstes tun solle. Da er unzweifelhaft männlich war, würde ihm die Idee sicher schnell kommen und ich ahnte, in welche Richtung sie gehen dürfte. Mona hat mich im vergangenen Jahr hinreichend darüber aufgeklärt. Männer können nicht anders. Sie brauchen das. Deswegen darf ich Florian auch nicht böse sein. Die Schuldige bin sowieso ich, weil ich ihm die elementarsten Bedürfnisse vorenthalte. Wenn jemandes Verhalten nicht normal ist, dann meins. Mit 24 Jahren sollte man keine Jungfrau mehr sein und schon gar nicht, wenn man einen gutsituierten Freund besitzt, der den Religionsspleen mit einem teilt.
Enden Träume normalerweise nicht an der dramatischsten Stelle? Dann, wenn die tödliche Kugel auf einen zufliegt oder man mitten in ein Rudel blutgieriger Wölfe gerät oder ein Baum von einem Mann über dich herfällt und sich das nimmt, was er denkt, dass ihm als Bräutigam zusteht?
„Ich will dir etwas kundtun, bevor ich mich zu dir lege, Marie. In der Kirche habe ich öffentlich versprochen, dich zu lieben und zu ehren, bis der Tod uns scheidet. Dem möchte ich mit Verlaub etwas hinzufügen, das nur für deine Ohren bestimmt ist. Ich will dir ein fürsorglicher Kamerad und bedachter Liebhaber werden. Christine, Sophie und unsere künftigen Nachkommen sollen in mir einen verständnisvollen Vater finden. Und deiner Seele möchte ich gern ein Bruder sein, damit wir gemeinsam unserem himmlischen Herrn dienen können.“ Am Ende dieses feierlichen Versprechens schenkte er mir ein fast schüchternes Lächeln, das sein Gesicht förmlich aufleuchten ließ und eine ganze Reihe gesunder Zähne zum Vorschein brachte.
In einem romantischen Film hätte ich mich garantiert für einen solchen Charakterdarsteller erwärmt. Auch hat noch nie jemand so nette, einfühlsame Worte für mich gefunden. Dennoch war ich hin- und hergerissen. Von dem abgesehen, dass ich nicht im Ansatz wusste, wer diese Christine und Sophie waren. Seine oder etwa meine Kinder? Außerdem macht es einen beträchtlichen Unterschied, schönen Worten zu lauschen oder sich gleich mit einem alles andere als gebrechlich wirkenden Körper konfrontiert zu sehen. Sein jugendliches Charisma sank auf jeden Fall beträchtlich, als er zu mir ins Bett schlüpfte. Sämtliche Alarmglocken begannen zu läuten, laut und eigentlich unüberhörbar.
Vielleicht hörte er diese tatsächlich, denn vorerst wurde ich nicht berührt. Stattdessen setzte sich der frischgebackene Ehegatte brav mit etwas Abstand an meine Seite und blickte mich abwartend an.
Ich wollte meinem Nebensitzer an dieser Stelle gern mitteilen, dass dies alles ein Versehen, bessergesagt nur ein Traum war, ich in echt Ronja heiße und darum unmöglich seine Frau sein konnte. Doch natürlich kam keine Silbe über meine Lippen. Ich saß bloß wie versteinert da und hielt meinen Teil der Bettdecke immer noch bis unters Kinn geklemmt.
Читать дальше