»Du bist ein Gestaltwandler!«, beginnt Moira. »Einen Drachen mit dieser Fähigkeit hat es in den letzten tausend Jahren nicht gegeben. Hm. Das bedeutet, dass deine Mutter von einem Zauber getroffen wurde, bevor sie das Ei, aus dem du schließlich geschlüpft bist, legen und ausbrüten konnte. Ob du deshalb solche Angst vor dem Fliegen hast? – Ich muss irgendwo die Abschrift einer uralten Drachenweissagung haben. In der wird davon berichtet, dass ein Beschützer der Menschen … Hm. Bevor ich etwas Falsches erzähle, suche ich sie lieber. Wenn du das nächste Mal zum Unterricht kommst, werde ich dir sagen können, welche Auswirkung das für dich haben wird.«
Dragon versteht nicht, was das bedeuten könnte. Er ist aber überzeugt, dass es besser sei, seine Drachengestalt zurückzubekommen. Sobald er unten im Tal ist, würden die dort lebenden Drachen ihn sonst für einen Eindringling halten und zu töten versuchen.
»Die ätzenden Bemerkungen der anderen wegen meiner Flugunfähigkeit kann ich ertragen. Die habe ich viele Jahre gehört, so dass ich mittlerweile dagegen immun bin. In dieser menschlichen Erscheinung könnten die Drachen mich mit einem Feuerstoß vernichten, bevor ich Zeit hätte, sie über ihren Irrtum aufzuklären. Das würde ich nicht überleben. Kannst du mir verraten, wie ich meine Gestalt zurückverwandeln kann?«
Die alte Lehrerin hatte zwischenzeitlich ihre Augen verdreht und die Lider geschlossen. Sie droht, jeden Moment einzuschlafen. Auf die drängende Frage Dragons hin gähnt sie laut. Gleichzeitig poltern Steinbrocken von der Bergflanke ins Tal hinab. Sie schlägt mit ihrem Schwanz auf den Boden.
»Dieser Jungdrache fragt mich, wie das gehen soll? – Du hast es doch alleine geschafft, dieser etwa fünfjährige Menschenjunge zu werden. Was meinst du wohl, wie die Rückverwandlung möglich ist? Nutze deinen Verstand, das ist die erste und wichtigste Voraussetzung.« Im gleichen Moment fällt das mühsam hochgehaltene Augenlid hinab und ein tiefes, zufriedenes Schlafgeräusch erklingt.
»Frage nie einen müden Drachen«, stellt Dragon im Selbstgespräch fest, »wenn du dringend einer Antwort bedarfst. Du bekommst anstatt der gewünschten Lösung lediglich ein Rätsel zu hören. Hm. Oder konnte es so einfach sein, dass Moira es für unter ihrem Anspruch fand, darauf einzugehen?« Der Menschenjunge legt seine Stirn in Falten und versucht nachzuvollziehen, wie er sein Aussehen gewechselt hat. »Wow, sollte das so leicht sein?« Er probiert sofort, was er überlegt hat. Im selben Moment atmet er auf. Er hat seine bisherige Gestalt wieder, in der er sich seit fünfzig Jahren wohl fühlt. »Wenn ich jetzt noch fliegen könnte, würde ich Moira stolz auf mich machen.«
Mit diesen Gedanken und berauscht von der Vorstellung, in einer zukünftig von ihr erzählten Heldengeschichte die Hauptperson zu sein, breitet er die Flügel aus und stürzt sich kopfüber von dem Plateau vor dem Höhleneingang.
Dragon spürt erfreut, dass ihn die Luft trägt. Begeistert von dem Glücksgefühl, endlich fliegen zu können, lässt er einen lauten Jubelruf erschallen. Er dreht eine Runde um den Berggipfel und stürzt wie ein Stein ins Tal hinab. Das geschieht nicht, weil er nicht mehr von seinen Schwingen getragen wird. Er will versuchen, so schnell wie ein Wanderfalke zu sein.
Dragon fixiert den schnell auf ihn zukommenden Felsboden am Fuß des Berges. Er versucht, den rasanten Sturz mit ausgebreiteten Schwingen abzufangen, doch das gelingt nur ungenügend. In dem Moment, da er fast auf den harten Untergrund prallt, reibt er sich die Augen. Er blickt erstaunt umher. Wieso hat er die Gestalt des Jungen angenommen, konnte er dadurch seinen Aufprall verhindern? Dragon schüttelt den Kopf und kennt sofort die Erklärung. Er hat die Szenen der lang zurückliegenden Ereignisse nur geträumt und atmet erleichtert auf.
»Wow, das war damals aber knapp!« Er erinnert sich daran, wie er den Sturz zwar nicht abbremsen, den Aufschlag jedoch trotzdem überleben konnte. Das gelang ihm deshalb, weil er nicht einfach senkrecht nach unten gestürzt war. Er flog unbewusst eine Schleife. Dadurch schlug er nicht auf dem Felsboden auf, sondern platschte in den See, der am Fuß des Berges liegt. Als Drache liebt er Wasser nicht besonders, auch wenn er es trinkt. Doch ein Ganzkörperbad ist nicht wirklich sein Lieblingsding. Dennoch war er damals erleichtert, den von dem kleinen Wasserlauf gespeisten Teich getroffen zu haben.
Dragon schüttelt sich heftig, als er an das ihn umhüllende Nass zurückdenkt. »Da habe ich unwahrscheinliches Glück gehabt!«, spricht er zu sich selbst. »Ich wollte gleich bei meinem ersten Flug die Geschwindigkeit des schnellsten Vogels überbieten und habe mir das eine Lehre sein lassen.«
Das leise geführte Selbstgespräch des Jungen weckt Runa. Sie steht sofort an seiner Seite und hält den gespannten Bogen in Händen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie handelte automatisch, mit der einer Elfe typischen Schnelligkeit.
»Wo sind die Feinde?«, flüstert sie leise und lässt ihren Blick umherschweifen. Doch in der Dunkelheit kann sie nichts erkennen. Sie hatten nur einen kurzen Flug zu dem Gipfel eines kleinen Berges gewagt, um die Kräfte des Mädchens nach dem Zusammenbruch nicht zu überfordern. Die Landung in der Dämmerung und die Position in luftiger Höhe waren vermutlich der Anlass zu Dragons Träumen.
Sie waren den Rest des Tages in der Gestalt von Wanderfalken Richtung Burganlage des Hexenmeisters geflogen. Es erschien ihnen zu gefährlich, sich als Drache und Drachenreiter dorthin zu begeben. Sobald sie die Burg in der Ferne erblickten, landeten sie auf dem Berggipfel, von wo aus sie sich am kommenden Tag einen Überblick über das vor ihnen liegende Gebiet verschaffen wollten. Erst danach beabsichtigten sie, zu entscheiden, in welcher Gestalt sie sich weiter nach Osten vorwagen und der Festung Drakonias nähern sollten.
Der dunkle Magier hatte sie vermutlich nicht bewusst wahrgenommen, als sie seine Burganlage überfliegen wollten. Trotzdem könnte er jetzt gezielt nach der Silhouette eines fliegenden Drachen Ausschau halten. Möglicherweise wären sie sogar in der Nacht nicht sicher, wenn er zur Überwachung unbekannte magische Hilfsmittel einsetzen kann.
Deshalb war es äußerst klug von ihnen, die Rast zum Schlafen zu nutzen, um ihre Kraftreserven aufzufüllen. Außerdem dachten sie an die Worte Willards. Der Bauer hatte sie gewarnt, dass es drei Burgen im Osten Merions gibt, die Drakonias Festung zum Schutz zu allen Richtungen hin abschirmen. Der Mann nannte das Gebiet Triqueta. Aus der westlichsten dieser Anlagen heraus hatte der Hexenmeister sie mit Feuerkugeln attackiert. Als Falken hoffen sie, ihn am kommenden Morgen zu überlisten und näher an Grimgard herankommen zu können.
»Ich habe geträumt, wie ich das erste Mal fliegen konnte«, beginnt Dragon mit seiner Entschuldigung, da er eigentlich Wache halten wollte. »Das war gar nicht so einfach, denn … Aber das ist nebensächlich.« Der Junge schluckt. »An den folgenden Tagen hat mir meine Lehrerin Moira erklärt, was ein Drachensucher macht, an welchen Merkmalen dieser zu erkennen ist, und was ich als Gestaltwandler zu beachten habe. Das war der von mir erwähnte Schnellkurs, den ich erhielt. Trotzdem habe ich in der kurzen Zeit mehr über Elfen, Zauberer und dunkle Magier gelernt, als in den Jahren zuvor. Nach einer Woche verabschiedete ich mich von der Ausbilderin. Ich wollte zum Festland und dort Erfahrungen sammeln. Ich war der Ansicht, lernen zu müssen, wie sich Menschen verhalten, wie sie denken und womöglich auch fühlen. Deshalb nahm ich seitdem nur selten die Gestalt eines Drachen an. Meist begnügte ich mich damit, eine Zauneidechse zu sein. Das erinnerte an meine Zeit, bevor ich fliegen konnte.«
Die einkehrende Pause beweist, dass er kurzzeitig in Gedanken auf der Insel, in seiner Heimat weilt.
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