Neal tritt gegen einen losen Brocken Teer, der aus der Straße herausgebrochen ist. Er fliegt weit und landet mit einem dumpfen Plopp im Wasser. Ehe ich begreifen kann, was er tut, springt er mit einem beherzten Sprung hinterher. Er taucht unter und macht ein paar Schwimmzüge unter Wasser. Ich schnappe geräuschvoll nach Luft. Was tut er denn da? Es ist verboten, in diesem Gewässer zu schwimmen, dazu ist einzig ein See im großen Park freigegeben worden.
Neal taucht wieder auf und schwimmt mit großen Zügen vom Ufer weg, ohne sich nach mir umzudrehen. Ich springe auf.
»Neal! Komm zurück! Was machst du denn da? Das ist verboten!«
Er antwortet mir nicht, sondern scheint nur noch schneller zu schwimmen. Es sieht aus, als steuere er auf die Insel der grünen Dame zu. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm dabei zuzusehen.
Nach endlosen Minuten werden seine Schwimmzüge behäbiger. Er wird es niemals schaffen, die anderthalb Meilen bis zur Barriere zu schwimmen. Weshalb sollte er auch? Im Norden der Stadt, wo es kein Wasser gibt, kann man die Barriere aus der Nähe sehen. Dort gibt es nur Zäune, die das Stadtgebiet begrenzen, die wenige Yards vor dem Energieschild dafür sorgen, dass niemand den Sicherheitsabstand überschreitet. Als Kind habe ich einmal versucht, einen Stein durch den Schild zu werfen, aber er ist davon abgeprallt wie von einer Gummiwand. Grelle Blitze zuckten über den Schild, das Surren war ohrenbetäubend laut gewesen.
Ich habe Angst um Neal. Wenn er die Barriere berührt, ist er tot, weil er einen elektrischen Schlag bekommt.
»Neal!« Ich schreie so laut ich kann, bin mir aber nicht sicher, ob er mich hören kann. Er wird ertrinken, wenn er nicht umkehrt, denn seine Kräfte scheinen ihn zu verlassen.
Irgendwann hört er auf zu schwimmen. Ich sehe seinen Kopf nur noch als Punkt auf der grauen Wasseroberfläche. Zuerst denke ich, er würde sich überhaupt nicht mehr bewegen. Minutenlang bleibt er auf der derselben Stelle. Dann sehe ich, wie er wütend auf die Wasseroberfläche schlägt, sodass es spritzt. Dann endlich bewegt er sich wieder auf mich zu. Mit zitternden Knien stehe ich noch lange am Ufer, bis Neal es endlich erreicht und ich ihm eine Hand reichen kann, um ihn herauszuziehen. Er bleibt erschöpft und wie tot neben mir liegen. Er sagt nichts, und ich schließe mich seinem Schweigen an. Alles, was ich hätte hervorbringen können, hätte es nur noch schlimmer gemacht. Ich lasse ihm die Zeit, die er benötigt, um sich auszuruhen, ehe wir langsam zurück nach Hause gehen. Neal zittert vor Kälte, obwohl es Sommer ist.
Cade
Ich werde mich nie an den Gestank von Bars gewöhnen. Vermutlich stört mich eher der Geruch ihrer Besucher als der der Lokalität an sich. Menschliche Ausdünstungen jedweder Art, vermischt mit gepanschtem Alkohol und billigen Zigaretten. Mir selbst haftet dieser Geruch an. Nicht meiner Haut, nein, aber meiner Kleidung. Ich hätte mich in all den Jahren längst daran gewöhnen müssen, aber Fehlanzeige.
Der Hocker unter mir knarrt, einer der Beine ist kürzer als die anderen. Ich befürchte, er könnte mir bald unter dem Hintern zusammenbrechen. Die Einwohner dieser Stadt haben ihn aus Überresten alter Möbel gezimmert, die sie unter den Trümmern hervorgezogen haben. Immerhin haben sie sich überhaupt die Mühe gemacht, Sitzmöbel anzufertigen. Das sollte man ihnen hoch anrechnen. Die meisten Besucher hocken jedoch auf dem nackten Steinboden und lehnen sich an die kahlen grauen Wände, von denen der Putz bröckelt. Tische sucht man hier ebenfalls vergeblich. Sie nennen dieses Etablissement The Cave , und es macht seinem Namen alle Ehre. Eine Gruft hätte jedoch mehr Charme versprüht. Ich frage mich, wer den Schuppen so getauft hat, sollten die dummen Städter doch eigentlich nie eine Gruft von innen gesehen haben. Diejenigen vom Volk V23 verbrennen die Toten jenseits der Brücke. Nun, vielleicht trug der Laden schon zu Glanzzeiten der Stadt diesen Namen. Ich kann mir kaum vorstellen, wer unter normalen Umständen auf die Idee gekommen wäre, in diesem Kellerloch eine Bar zu eröffnen. Aus heutiger Sicht kann ich es fast verstehen. Das Cave ist ein illegaler Umschlagplatz für Tauschwaren aller Art, die zumeist von hinter der Barriere hereingeschmuggelt werden. Als Bar im eigentlichen Sinn versteht sich der Laden nicht, obwohl es manchmal selbstgebrannten Schnaps aus Mais oder Kartoffeln von jenseits der Brücke zu trinken gibt. Heute ist so ein Tag, aber ich habe kein Glas bestellt. Dazu sind mir meine Tauschwaren zu schade. Ich bin auf der Suche nach etwas anderem.
Die Dame auf dem Hocker neben mir lehnt sich lasziv über den Tresen. Mein Blick streift sie nur flüchtig. Ich hege kein Interesse an niederen Menschen. Sie hat den Reißverschluss ihres gelben Einheitsanzuges für Frauen ungebührlich weit heruntergezogen, sodass ich den Ansatz ihrer Brüste sehen kann. Ihr Haar ist lang und braun. Wenn sie sich nach vorne lehnt, ergießt es sich über das fleckige morsche Holz des Tresens. Sie sieht mich schon die ganze Zeit über lüstern an. Wann merkt sie, dass sie mir auf die Nerven geht? Wären nicht so viele Leute hier, hätte ich ihr längst eine Kugel in den Kopf gejagt. Eigentlich ist mir meine Munition zum Zwecke der Aggressionsbewältigung zu schade, aber heute hätte ich mir vorstellen können, eine Ausnahme zu machen. Stattdessen versuche ich, das Weibsbild einfach zu ignorieren. Ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen. Wo ist dieser Idiot? Er sagte, er käme gegen 21 Uhr hierher. Ich möchte die beiden Batterien nicht umsonst mit mir herumgeschleppt haben, wenn ich dafür heute kein Euphoria bekomme. Nicht, dass ich selbst Interesse an Drogen hätte. Dieses Zeug zeigt bei mir schlichtweg keinerlei Wirkung. Ich kann nicht einmal nachvollziehen, wie es sich anfühlt. Die Menschen berichten häufig von Glücksgefühlen - für mich nur ein bedeutungsloser Begriff meines Wortschatzes. Ich beabsichtige, das weiße Pulver wiederum gegen etwas anderes einzutauschen. Aber wie soll ich das machen, wenn dieser Bastard heute nicht aufkreuzt?
Das Gedränge in der Bar macht mich unruhig. Ich komme nicht sehr oft hierher, und ich habe den Ort als weniger überlaufen in Erinnerung behalten. Heute sind mindestens dreißig Leute hier. Wahrscheinlich wegen des Schnapses, der hier heute ausgeschenkt wird. Großartig. Da habe ich mir für meinen Tausch den bestmöglichen Tag ausgesucht.
»Möchtest du nichts trinken?«
Ich fahre zusammen und reiße den Kopf ruckartig herum. Das Weib neben mir hat es gewagt, mich anzusprechen! Wie zufällig berührt sie mit ihrem Knie das meine. Ich rücke ein Stück beiseite.
»Nein, ich möchte nichts trinken«, knurre ich sie an. Auch sie weicht ob meines harschen Tonfalls zurück. Ich weiß, dass ich ziemlich überzeugend klingen kann. Meine Stimme ist recht tief, und Sienna hat mir einmal gesagt, mein Blick sei der einer Schlange. Irgendwann habe ich ihn mir antrainiert, um aufdringliche Menschen fernzuhalten. Okay, nicht nur deshalb. In dieser Welt ist es einfach von großem Vorteil, ein harter Hund zu sein. Das liegt mir in den Genen, dafür kann ich nicht einmal etwas.
Rasch drehe ich mich wieder um und beobachte das Treiben in der Bar. Bar , wirklich lächerlich. Der selbstgezimmerte Tresen ist alles, was entfernt an eine Bar erinnert. Niemand kommt hierher, um etwas zu trinken, zumindest nicht an normalen Tagen, an denen es keinen Schnaps gibt. Wer auf der Suche nach illegalen Waren oder käuflicher Liebe ist, ist hier genau richtig. Ob man es glaubt oder nicht, selbst die V23er sind nicht unbestechlich. Sie sind gefühlskalte Bastarde, ja, aber die Triebe scheinen ihnen erhalten geblieben zu sein. Ich verziehe den Mund zu einem Grinsen. Widerwärtiges Pack. Sie glauben tatsächlich, sich den Rest der Welt Untertan machen zu können. Tja, meine Lieben, aber mit euren abartigen Mutationen und zahlreichen genetischen Fehlern könnt ihr das vergessen. Weshalb sollte es euch besser ergehen als mir und meiner Sippe.
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