Als das Schweigen zwischen uns anfängt, peinlich zu werden, sage ich schließlich doch etwas, aber meine Stimme klingt brüchig. »Ich wünsche mir, meine Eltern jenseits der Brücke wiederzusehen.«
Kaum ist der Satz heraus, bereue ich ihn auch schon. Es muss sich herzlos für ihn anhören, weil seine Eltern tot sind und meine vielleicht nicht.
Neal beißt sich auf die Unterlippe und sieht wieder ins Wasser hinab. Es ist grau und glatt. Es schwappt gegen die Uferkante. »Ist das der Grund, weshalb du unbedingt die Stadt verlassen möchtest? Weshalb du dich jeden Tag in Bücher vergräbst und Sport treibst?« Er schüttelt traurig den Kopf. »Ich möchte nicht, dass du enttäuscht wirst, Holly. Vielleicht sind deine Eltern gar nicht dort und alles ist nur eine Illusion, ein Traumgebilde. Ich habe dich wirklich sehr gern und würde mir wünschen, wir könnten gemeinsam in die Zukunft sehen. Aber das können wir nicht, wenn du einem unerreichbaren Ziel hinterher läufst.«
Seine Worte schockieren und beschämen mich gleichermaßen. Blut rauscht in meinen Ohren. Ich mag es nicht, wenn Neal mir sagt, dass er mich gern hat. Ich fühle mich dann immer befangen und weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Er ist mein bester Freund, aber manchmal glaube ich, er würde gerne mehr als das sein. Es sind flüchtige Berührungen, ein verstohlenes Lächeln oder - so wie jetzt - auch ganz offene Worte, die mich das denken lassen. Mit einem Mal verspüre ich den Wunsch, aufzustehen und wegzulaufen, aber ich ringe ihn tapfer nieder.
»Ich halte meine Ziele nicht für Traumgebilde«, sage ich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Ich möchte nicht über meine Gefühle reden. »Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass ich hinter die Barriere gerufen werde, oder etwa nicht? Ich glaube fast, du gönnst mir das gar nicht.«
Neal wendet mir den Kopf zu, in seinen Augen liegt ein Ausdruck, der mein Herz für einen Schlag aussetzen lässt. Ich wünschte, wir würden wieder miteinander lachen. Diese Art von Unterhaltung mag ich nicht.
Neals Lippen formen sich zu einem schmalen Strich, seine Augen glänzen feucht. Er legt eine Hand auf mein Knie. Mich durchfährt ein elektrisches Gefühl, unangenehm und prickelnd zugleich. Mein Herz schlägt so laut, dass ich befürchte, Neal könnte es hören.
»Ich könnte es nicht ertragen, wenn du weg gehst und mich allein lässt«, sagt er.
Seine Worte tun weh. Er kann nicht von mir verlangen, in der Stadt zu bleiben, wenn ich rekrutiert werde. Ich hätte in diesem Fall ohnehin nicht die Wahl. Aber kann er von mir verlangen, mit Traurigkeit in der Seele zu gehen? Ich habe mich mein Leben lang auf diesen Tag vorbereitet. Er macht ihn mir kaputt.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
Neal holt tief Luft und stößt sie als Seufzer wieder aus. Mit einer Hand reibt er sich über das Gesicht. »Du könntest wenigstens so tun, als würdest du es bedauern, mich zurücklassen zu müssen.«
Der Schmerz in meinem Herz steigert sich zu einem dumpfen Gefühl, als würde mir jemand die Brust abschnüren. Ich lege meine Hand auf seine, die immer noch auf meinem Knie ruht.
»Du zwingst mich, mich zu entscheiden. Das ist gemein. Du weißt, dass du mein bester Freund bist.«
Neal zieht seine Hand weg. Es versetzt mir einen Stich. »Nur das? Holly, ich träume schon seit dem Tag, an dem ich in die Kommune gekommen bin davon, mit dir in ein eigenes Haus zu ziehen und eine Familie zu gründen.«
Seine Ehrlichkeit durchströmt meine Eingeweide wie eiskaltes Wasser. Ich wäre weniger schockiert gewesen, wenn er mir mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen hätte. Ich ahne schon lange, dass Neal andere Absichten hegt, als nur mein bester Freund zu sein. Ich habe es aber immer beiseite geschoben und mir eingeredet, ich bilde es mir nur ein. Was soll ich ihm sagen? Ich möchte ihn nicht anlügen. Aber ihm wehzutun, ist genauso schwer. Ich weiß nicht, wie Liebe sich anfühlt. Vielleicht liebe ich ihn ebenfalls? Bedeutet Liebe, gerne mit jemandem zusammen zu sein? Dann ist es wohl so. Oder ist es mehr? Woher soll ich das wissen? Flüchtig schweifen meine Gedanken ab. Ich versuche, mir vorzustellen, mit Neal in ein eigenes Haus zu ziehen. Es fühlt sich nicht richtig an.
Allmählich wird die Pause zu lang. Ich muss etwas sagen. Neal sieht mich erwartungsvoll an.
»Vielleicht sollten wir erst einmal abwarten, ob man mich überhaupt rekrutiert.«
Es scheint nicht das zu sein, was Neal hören wollte, denn eine Falte gräbt sich zwischen seine Augenbrauen. »Weshalb läufst du vor der Entscheidung davon? Kannst du mir nicht jetzt schon sagen, ob du dir eine Zukunft mit mir vorstellen kannst?« Sein harscher Tonfall versetzt mir einen Schreck. »Was fühlst du für mich, Holly? Das ist eine ganz einfache Frage.«
Ich habe nicht geahnt, dass ein Herz noch schneller schlagen kann, aber meines scheint sich hohe Ziele gesetzt zu haben. Stärker denn je wünsche ich mir davonzulaufen. Neal drängt mich in die Ecke. Ich hasse ihn dafür.
Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Die Wahrheit wäre gewesen, dass ich mir wünsche, alles würde genauso weitergehen wie bisher, sollten die Obersten mich nicht zu sich rufen. Aber mir wird bewusst, dass das nicht dauerhaft möglich gewesen wäre. Ich kann nicht bei Carl, Suzie und Candice leben, bis ich alt und grau bin.
Ich möchte gerade den Mund öffnen, um Neal zu sagen, dass auch ich mir eine Zukunft mit ihm wünschen würde, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprochen hätte, als er schnaubend die Beine heranzieht und aufspringt. Ich habe zu lange gezögert.
»Weshalb willst du unbedingt über die Brücke gehen?«, raunzt er, wobei er mich von oben herab absieht, was mir noch mehr Angst einjagt. »Woher willst du wissen, dass dort alles besser ist als hier? Hier könnten wir ein sorgenfreies Leben führen. Familien mit Kindern werden gut versorgt. Du weißt nicht, ob deine Eltern überhaupt noch leben. Und noch viel weniger weißt du, ob die Welt jenseits der Brücke wirklich das Paradies ist, das man dich glauben lässt.«
Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht und mein Mund aufklappt, aber sagen kann ich nichts. Ich starre ihn nur an. Ich kann nicht glauben, was er sagt.
»Du glaubst alles, was in deinen Büchern steht«, fährt Neal mit seiner Schimpftirade fort. »Schaltest du gelegentlich auch mal dein Gehirn ein? Du bist doch so schlau, oder willst es zumindest sein. Wir wissen überhaupt nicht, was sich auf der anderen Seite der Brücke befindet und niemand hat je darüber gesprochen. Kommt dir das nicht seltsam vor? Ich sage dir jetzt mal etwas: Ich war froh, dass sie mich damals nicht rekrutiert haben!«
Tränen lösen sich aus meinen Augenwinkeln und laufen meine Wangen hinab. Ich hasse es zu weinen, kann es aber nicht verhindern. Meine Welt bricht gerade über mir zusammen, der Boden unter meinen Füßen wird mir weggezogen. Mit einem Mal weiß ich selbst nicht mehr, was ich eigentlich will. Neal hat recht, ich weiß nicht genau, wie ein Leben in der Welt außerhalb der Barriere aussieht. Ich weiß nicht einmal, wie groß das Gebiet der Obersten ist. Es sind schon einige unser Nachbarn in den vergangenen Jahren rekrutiert worden. Einige von ihnen arbeiten heute bei der Nahrungsausgabe oder bei der Polizei, andere haben wir nie wieder gesehen. Diejenigen, die in schwarzen Anzügen in die Stadt zurückgekehrt sind, haben kein Wort mehr mit uns gesprochen, ihre Gesichter waren emotionslos. Ich habe mir geschworen, so nicht zu werden, wenn ich einer von ihnen werden sollte. Aber hätte ich das verhindern können? Was geschieht mit den Menschen jenseits der Barriere?
Jetzt weine ich ganz hemmungslos, meiner Kehle entweicht ein Schluchzen. Neal knurrt wütend.
»Ich bin diese verdammte Scheißstadt satt!«, brüllt er über die Wasseroberfläche. Ich hoffe, keiner der Obersten hat ihn gehört. Die Polizei geht nicht zimperlich mit jenen um, die das System infrage stellen.
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