1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Als die Ärztin fertig ist, klebt sie mir ein Pflaster auf die winzige Einstichstelle. Das war schon alles? Fast ärgere ich mich, weil ich Angst davor gehabt hatte. Carl wird mich auslachen, wenn ich heute Abend zurückkomme.
Die Ärztin schiebt ihre Ärmel wieder nach unten und verdeckt das Muster auf ihrem Arm. Dann bittet sie mich aufzustehen. Aus einer Schublade der Kommode nimmt sie ein Maßband. Ich werde komplett vermessen, danach noch gewogen. Ich muss mich in alle möglichen Richtungen drehen, während sie meinen Rücken abtastet. Währenddessen spricht sie kein Wort mit mir. Erst, als sie wieder auf ihrem Klemmbrett herumkritzelt, setzt sie dazu an, etwas zu sagen.
»Verlassen Sie den Raum bitte aus dieser Tür.« Sie deutet auf jene, durch die ich nicht hereingekommen bin. »Dahinter wartet jemand mit Frühstücksbrei und Wasser auf Sie, immerhin haben sie das gemeinsame Mahl verpasst. Menschen werden krank, wenn sie nicht regelmäßig essen.«
So, wie sie es sagt, klingt es keinesfalls freundlich. Eher so, als sei ich nur eine Maschine. Dennoch freue ich mich, dass ich nicht mit leerem Magen in meine Kommune zurückkehren muss.
»In wenigen Tagen werden Sie von uns hören.« Sie hebt den Blick und sieht mich an, als könne sie nicht fassen, dass ich immer noch hier bin. Ich habe den Eindruck, sie möchte mich schnellstmöglich loswerden. Gerne hätte ich ihr noch ein paar Fragen gestellt, aber das traue ich mich nicht. Schweigend verlasse ich den Untersuchungsraum.
***
»Und? Hast du ein gutes Gefühl?«
Ich zucke zusammen, weil Neal mich aus meinen Gedanken gerissen hat. Er lässt den Kopf hängen und sieht mich nicht an, während er mit mir spricht. Er sitzt links von mir. Wir haben uns die Schuhe ausgezogen und sitzen direkt auf der Kante der Straße am Wasser. Unsere Beine baumeln herunter, aber ich kann die Wasseroberfläche mit den Füßen nicht erreichen.
»Was meinst du?«, frage ich, obwohl ich ganz genau weiß, wovon er spricht. Ich versuche, es beiläufig klingen zu lassen.
»Na ob du glaubst, für tauglich befunden zu werden.« Er sieht mich immer noch nicht an. Seine Haare hängen wie ein Vorhang vor seinem Gesicht, während er auf seine Füße starrt, die vor und zurück schwingen.
»Woher soll ich das wissen? Die Ärztin hat überhaupt nicht mit mir gesprochen. Du musst es doch selbst wissen, du bist erst letztes Jahr bei der Untersuchung gewesen.«
Jetzt hebt Neal doch den Blick. Die Traurigkeit in seinen Augen versetzt mir einen Stich. Ich hätte nie gedacht, dass es ihn so sehr treffen würde, wenn ich einmal nicht mehr da bin. Mit einem Mal fühle ich mich befangen und seine Nähe ist mir unangenehm. Unsere Oberarme berühren sich, weil wir so dicht nebeneinander sitzen.
»Es ist jetzt schon zwei Tage her«, sagt er. Höre ich Hoffnung in seiner Stimme?
»Benachrichtigen sie einen auch, wenn man nicht genommen wird?«
Neal schüttelt den Kopf. »Nein. Ich habe nie wieder etwas von meinen Untersuchungsergebnissen gehört.«
Ich denke darüber nach, dass auch Suzie noch nicht Bescheid bekommen hat. Wenn wir beide nicht genommen werden, könnte ich besser damit umgehen. Andererseits ist es erst zwei Tage her. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, Blut zu testen.
Ich hebe den Kopf und blicke geradeaus. Vor mir erstreckt sich eine weite Wasserfläche, die sich am Horizont in der flirrenden Energiebarriere verliert, die um unsere Stadt gespannt ist. Nur eine Brücke führt hindurch. In meinen Büchern steht, die Barriere schütze uns vor erneuten Virusepidemien. Mir ist es gleichgültig. Ich weiß, dass es dahinter nichts mehr gibt als das Ende der Welt und den Himmel, aus dem die Viren gekommen sind. Ich fühle mich sicher hinter der Barriere.
Neal folgt meinem Blick. Wir sitzen oft an diesem Ort, der südlichsten Spitze der Landzunge, und sehen auf das Wasser hinaus. Hinter uns erstreckt sich ein kleiner Park, aber dort wachsen nur verdorrte hässliche Bäume, deren Äste verkrüppelt sind. Die Pflanzen im großen nördlichen Park sind hingegen noch belaubt.
»Siehst du dir die grüne Dame an?«, fragt Neal mich leise.
Ich nicke. »Ja. Sie sieht so einsam aus.«
In der Ferne gibt es eine kleine Insel vor der Küste unserer Stadt, direkt dahinter flirrt der Energieschild. Ich kann die Distanz nicht schätzen, aber es ist sicherlich mehr als eine Meile. Auf der Insel thront eine seltsame Statue, sie ist hellgrün. Ich habe mir oft gewünscht, meine Augen wären besser, damit ich ihr Gesicht erkennen kann, doch sie ist viel zu weit entfernt. Wenn ich ehrlich bin, kann ich sie fast gar nicht erkennen. Alles, was ich sehen kann, ist, dass sie ihren rechten Arm in die Höhe reckt und etwas nach oben hält. Die Statue wird von den Einwohnern nur die grüne Dame genannt.
»Glaubst du, die Menschen der alten Welt haben sie auf diese Insel verbannt?« Ich wende Neal den Kopf zu. Er zuckt nur die Achseln.
»Das weiß ich nicht. Es ist ebenso möglich, dass die Obersten sie als Wahrzeichen errichtet haben.« Er zeigt mit dem Finger in ihre Richtung. »Siehst du? Sie trägt eine Krone mit sieben Zacken. Das Symbol der Obersten ist ein siebenzackiger Stern, vielleicht gibt es einen Zusammenhang.«
»Du kannst ihre Krone erkennen?« Ich kann es kaum glauben und ärgere mich zugleich, dass er mir das nie zuvor erzählt hat. Ich habe alle meine Bücher nach Informationen über die grüne Dame abgesucht und nichts gefunden. Und jetzt sagt er mir ganz beiläufig, dass ihre Krone sieben Zacken hat!
»Nun ja, das habe ich nur deshalb erkannt, weil ich einmal durch ein Fernrohr gesehen habe, das ich mir aus einer alten Brille gebaut habe.« Er lächelt und sogleich schmilzt mein Verdruss dahin.
»Glaubst du auch, dass dies hier ein Werk der Obersten sein könnte?« Ich öffne den Reißverschluss der linken Brusttasche meines Anzuges und ziehe eine abgegriffene Karte aus stabilem Karton hervor.
»Die Pappe?«
»Nein, das, was darauf abgebildet ist, du Dummerchen!« Ich knuffe meinen Freund in die Seite und halte ihm die Karte unter die Nase. Sie ist mein größtes Heiligtum und alles, was mir von meinen Eltern geblieben ist.
Er sieht sich das Bild an und schüttelt den Kopf. »Das ist vielleicht nicht echt. So einen Ort kenne ich nicht. Ich würde an deiner Stelle nicht zu viel hinein interpretieren.«
Ich sehe mir selbst noch einmal das Bild an, obwohl ich es schon tausend Mal getan habe. Es ist das lebensechte Abbild eines Hügels, auf dem übermannsgroße Buchstaben thronen. Hollywood steht dort. Ich bilde mir ein, meine Eltern hätten mich nach dieser Karte benannt. Die Rückseite ist komplett weiß und unbeschriftet. Mein größter Wunsch ist es, ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Wie gerne würde ich meine Eltern fragen, was es damit auf sich hat!
Enttäuscht stecke ich sie zurück an ihren Platz und verschließe den Reißverschluss.
»Ich weiß, dass du oft an deine Eltern denkst.«
Es kommt mir vor, als wäre Neal noch näher an mich heran gerutscht. Ich nehme den Geruch seiner Haut wahr, Staub und Seife. Sein Gesicht ist nur einige Zoll neben meinem. Mein Blick haftet an der kleinen Narbe über seinem rechten Auge, die ihr nur sehe, wenn er mir so nah ist wie jetzt. Vor einigen Monaten hat Neal sich bei der Arbeit verletzt, ein scharfes Stück Blech hat ihm die Haut aufgeschnitten. Jetzt zieht sich eine feine Linie durch seine Augenbraue, auf der keine Haare wachsen.
Ich möchte nicht, dass Neal mit mir über meine Eltern spricht und wünsche mir, er würde still sein. Ich ringe schon wieder mit den Tränen. Dabei habe ich weniger Grund dazu als Neal, immerhin hat er seine Eltern gekannt und ich nicht. Für ihn muss es sich schlimmer anfühlen als für mich, trotzdem jammert er nie oder verliert auch nur ein Wort über seinen Kummer.
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