Iselin C. Hermann - Dort, wo der Mond liegt

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Nach ihrem vielbeachteten Erstling, dem Briefroman «Liebe Delphine. Lieber Jean-Luc», führt Iselin C. Hermann den Leser diesmal in eine ferne, faszinierende Welt. Um Sehnsucht und Liebe geht es auch in ihrem neuen Roman, um den Wunsch nach Heimat und Zugehörigkeit – eine Suche mit unerwartetem Ausgang. Als Fremde kehrt Samia, eine amerikanische Journalistin, in das Land zurück, in dem sie geboren wurde, und begibt sich dort auf die Suche nach ihrer Vergangenheit. Die Entscheidung, nach Syrien zu gehen, bedeutet das Ende der Beziehung zu ihrem langjährigen jüdischen Freund Isak, öffnet ihr zugleich aber die Tür zu sich selbst. Zwei weitere Männer treten in ihr Leben: Nadir, mit dem sie eine Affäre beginnt, und Jameel, in den sie sich verliebt. Doch diese Liebe ist mit einem Geheimnis verknüpft. Mit sinnlicher Sprache und einfühlsamem Ton beschreibt Iselin C. Hermann die Reise einer Frau zum eigenen Ich. Ein Roman, der auf hohem Niveau unterhält. Iselin C. Hermann erzählt von Sehnsucht und Liebe, vom Wunsch nach Heimat und Zugehörigkeit – von einer Suche mit unerwartetem Ausgang.-

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Iselin C. Hermann

Es ist, wie wieder da zu sein. Obwohl ich nicht mehr hier gewesen bin, seit ich sechs Monate alt war, ist es, wie nach Hause zu kommen.

Das Geräusch einer Tür, die sich zu einem bestimmten Zimmer aus der Kindheit öffnet, wird man nie vergessen. Das schleifende Geräusch der Tür zur Küche meiner Großeltern würde ich auf einem Tonband unter Hunderten von sich öffnenden Türen wiedererkennen. Aber die Aufnahme hätte vor langer Zeit gemacht werden müssen, denn den Rahmen und die Scharniere, die, weil sie abgenutzt waren, das schleifende Geräusch verursachten, gibt es nicht mehr, und auch das Küchenmädchen ist tot. Das Geräusch gibt es nur in mir.

Der Flughafen liegt eine knappe Stunde Fahrzeit außerhalb der Stadt, und doch schlug mir der würzige, süße Duft entgegen, als ich aus dem Flugzeug stieg. Ein Duft, den ich wiedererkenne, ohne eine bewußte Erinnerung an ihn zu haben, eine Wahrnehmung, die wie die der schleifenden Tür geruht hat. Ein Traum kann während eines langen und arbeitsreichen Tages völlig verdrängt worden sein und dann plötzlich hell und klar auftauchen, sobald man den Kopf aufs Kissen legt. So geht es mir hier. Obwohl ich keine klare Erinnerung daran habe, hier gewesen zu sein, ist es, wie zurückzukehren.

Es ist Februar und kalt, zumindest hat man das Gefühl, aber es ist viel wärmer als zu Hause, wo das Flugzeug mit Verspätung abflog, weil die Startbahn verschneit war. Hier ist es anders kalt, bis-auf-die-Knochen-kalt, weil nichts geheizt ist. Kohlebecken und Gasheizofen sorgen für eine begrenzte Wärme, ansonsten heißt es warten, bis die Nordhalbkugel sich wieder zur Sonne neigt. Das Frühjahr beginnt in einem Monat, sagen die Leute und machen eine entschuldigende Handbewegung. Januar und Februar muß man einfach ertragen, danach ist diese Zeit vergessen, als ob sie nie wiederkäme.

»Sie müssen nur warten«, sagte der Nachtportier, als ich zähneklappernd herunterkam und um eine zusätzliche Decke bat. »Warten Sie bis August!«

Als ob die Kälte, von der ich gerade eine doppelseitige Lungenentzündung bekomme, konserviert werden könnte, um in der Hitze des Monats August in kleinen Portionen genossen zu werden. Außerdem regnet es heute morgen. »Es regnet«, sage ich. Der Herrgott hat den Stöpsel aus der Badewanne gezogen und die Leute danken ihm auch noch dafür. » Al-hamdu l-illah , Allah sei Dank.« Ich verziehe mich in den Hamidiye Suq, der mit gewölbten, durchlöcherten Wellblechplatten überdacht ist. Sie sind nicht durchgerostet, sondern von der französischen Kolonialmacht perforiert worden, als die syrische Befreiungsarmee 1946 aus der Luft beschossen wurde. In meinem Reiseführer steht nicht, wie der Kampf abgelaufen ist, aber ich stelle mir die stumpfnasigen Flugzeuge vor, Piloten in Ledermützen mit wehenden Ohrenklappen – wie Snoopy auf seiner Hundehütte – und leichten Handfeuerwaffen. Die Franzosen haben verloren, aber die Einschußlöcher sind noch da, groß genug, daß das Tageslicht wie die Strahlen um ein barockes Altargemälde hereinfällt, aber nicht so groß, daß man etwas vom Regen draußen spürt. Hier drinnen ist es warm und trocken, voller Menschen und Waren, Farben. Voller Düfte.

Im Sommer verstärkt die Wärme vielleicht die einzelnen Gerüche, so daß der Wettlauf, wer der stärkste ist, noch erregender wird. Jetzt ist Winter, und doch kann man nur schwer sagen, welcher Geruch am intensivsten ist: die schwarzen Nelken in dem Sack da drüben oder der Kardamom, den sie in den Kaffee tun? Vielleicht übertönt auch das Wort für Kardamom alles: hayel . Ich bitte den Gewürzhändler, den Namen zu wiederholen, der zuerst klingt wie »hell«. Es ist ebenso schwierig zu entscheiden, welches der vielen Gewürze, sorgfältig zu spitzen Pyramiden geformt, optisch den Sieg davonträgt. Der rote Paprika zieht zuerst den Blick auf sich, aber Paprika riecht nicht besonders stark.

» Filfil ahmar «, sagt der alte Mann mit sehr lauter Stimme. Er sieht und hört, daß ich Ausländerin bin, und er wendet sich an mich, als ob ich zu keinem von beiden fähig wäre. Einfache Menschen glauben, daß der Fremde sie verstehen kann, wenn sie ihre Muttersprache nur laut genug sprechen. Er zeigt noch einmal mit seinem dürren Finger auf das Gewürz und wiederholt insistierend » filfil ahmar «, als ob ich ein Idiot wäre, was viele Touristen ja tatsächlich sind. Er kann mir nicht ansehen, daß ich keine Touristin bin. Ich bin Reisende. Und bald habe ich eine Aufenthaltsgenehmigung für sechs Monate – inschallah , so Gott will. Die Wangen des Gewürzhändlers sind eingefallen. Jede Falte hat ihre Geschichte, seine Waren liegen wie feiner Staub in jeder Furche, was sein Gesicht einem Spinngewebe ähneln läßt.

» Filfil «, seine Vogelklaue zeigt zitternd auf den schwarzen Pfeffer, es klingt wie ein Befehl, aber die Stimme ist nicht mehr so laut, jetzt, wo er bemerkt, daß ich ihn verstehe, daß ich sehen und hören und sogar fragen kann: » Schu hada? Was ist das?« Die Mohnsamen sind noch schwärzer als filfil . Die Mohnsamen sind schwarzblau und glänzen.

» Kumin «, der Alte zeigt auf das grüngelbe Pulver, das riecht, wie nur Kumin riechen kann, obwohl ich das Gewürz nicht kenne. Der gelbe Curry ist scharf und grüner als Kumin , Gelbwurz ist auf seine eigene Art gelb. Die Stafette wird weitergegeben an die gelben Fransen im orangefarbenen Safran. Dann wieder filfil , wieder in einem anderen Rotton, und sumah ist hellbraun. Die Zimtrinde rauh und trocken neben dem staubigen, gestoßenen Ingwer. Filfil gibt es auch in Weiß, das wußte ich: weißer Pfeffer, dessen Geruch vage an Terpentinöl erinnert.

In einem grob gewebten Sack mit schwarzer Schrift hat der Vogelvater Tausende von Rosenknospen eingefangen. Rosenknospen, die mit ihren kleinen roten Schnäbeln das traurige Lied zwitschern, daß sie nie zu voller Pracht erblüht sind. Vertrocknet und zart, füllen sie den ganzen Sack des alten Mannes. In fernen, lieblichen Gärten geerntet und gesammelt, bevor sie sich entfaltet haben. Was wiegt schwerer: ein Kilo Blei oder das ungelebte Leben? Die Blumen im Sack daneben sehen aus, als hätten sie nie gelebt, sie sind in bleiches Seidenpapier gewickelt. Die pastellfarbenen Nelken sehen weniger wehmütig aus als die Rosenknospen, weil sie nicht im Puppenstadium geerntet werden – sie haben immerhin geblüht, bevor sie gepflückt wurden, aber so, wie sie daliegen, sind sie nur eine schwache Erinnerung an die Blumen, die sie einmal waren: Karmesinrot ist zu Altrosa verblichen, Chromgelb zu einem vergilbten Elfenbein, und die leuchtend weißen Nelken, die sich einmal im Wind gewiegt haben, liegen jetzt wie ein staubiges Flüstern im Sack des Gewürzhändlers, später werden sie mit kochendem Wasser übergossen werden und so ihre Tage als Blütentee beenden. Rosen und Nelken, die einmal die am stärksten duftenden Blumen im Garten waren, sind jetzt die schwächsten im Spektrum.

Daneben ist ein ähnliches Geschäft, das die gleichen Gewürze auf genau die gleiche Art anbietet: zu kleinen Gipfeln getürmt, daneben ein Sack voller Rosenknospen. Der einzig sichtbare Unterschied ist der Ladenbesitzer, der hier so dick ist, daß zwischen ihm und seinen Regalen kein Platz mehr bleibt. Der Nachbar zur anderen Seite verkauft Schildkrötenpanzer und Fledermäuse, pulverisierte Nashornhörner und Hexenkraft, Kalebassen und Schlangenhäute. Um die Buden stehen die potentiellen Käufer, Männer in weiten Dschellabas, unter denen viel Platz für alles mögliche ist; die nackten Füße stecken in Plastiksandalen, einer von ihnen hat einen kreideweißen Turban auf. Andere tragen ein Jackett über der Dschellaba, wieder andere haben den ganzen Schritt nach Westen gewagt, indem sie in einen Anzug gestiegen sind.

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