Eine Lüge ist es erst, wenn man fragt und eine unwahre Antwort bekommt. Er hat mich nie belogen, A. S., denn ich habe nie gefragt. Aber er war anders, als ich mit Samia aus Amman nach Hause kam. Oder ist das einfach so, wenn man Eltern wird? Jetzt waren wir nicht mehr nur zu zweit.
Wir waren zu dritt. Und alles war anders. Tagsüber war er in der Botschaft, abends gab es immer öfter Empfänge und Veranstaltungen, die er besuchen mußte, und zu denen ich ihn nicht begleiten konnte. Ich stillte, und es war, als würde die Energie aus mir herausfließen. Ich fragte nicht, und ich bekam keine unwahre Antwort. Freitags, wenn er frei hatte, gingen wir im Tischrinpark spazieren. Zu mehr reichten meine Kräfte nicht. Erst dachte ich, es sei die Enttäuschung darüber, daß es ein Mädchen geworden war, und später wagte ich einfach nicht mehr zu fragen, ob er deshalb so abwesend war, denn ich wußte, daß er eine andere hatte. Ich hatte keine Beweise, ich hatte kein Telefongespräch von einem anderen Apparat aus mitgehört oder einen Brief an ihn geöffnet, so wie man es im Kino sieht. Er roch auch nicht nach einem anderen Parfüm oder hatte Lippenstift auf dem Hemd. Ich konnte es einfach wie ein sehr, sehr schweres Kissen spüren. Ich bekam keine Luft, konnte mich nicht rühren, nichts sagen. Ich war innerlich wie gelähmt. Der Arzt war besorgt, weil Samia so wenig zunahm, und verordnete Muttermilchersatz. Die Krankenschwester sagte, es sei nicht gesund, daß sie nachts zwischen uns im Bett lag. Sie sagte nicht, für wen es nicht gesund war. Er hatte eine andere. Erst sagte A. S., ich sei erschöpft und überspannt, aber dann kam die Diagnose schwere Geburtsdepression. A. S. wollte nicht die Verantwortung für mich übernehmen, er und der Arzt hatten Angst, daß ich mir und dem Kind etwas antun könnte. Wir wurden in eine Privatklinik verfrachtet, wo ich mit Medikamenten vollgestopft wurde. Je länger ich dort war, je mehr Medikamente sie mir gaben, desto tiefer wurde der Abgrund. Aber selbst in der Tiefe meiner Betäubung wußte ich, wie alles zusammenhing und daß er im Grunde nicht unzufrieden mit dem Arrangement war. Davon war ich krankhaft überzeugt. Jedes Mal, wenn er mich in der Klinik besuchte, konnte ich es an seiner Körperhaltung und seinem Verhalten sehen, seinem Blick oder richtiger, seinem nicht vorhandenen Augenkontakt. Seine Besuche waren eine eiskalte Klinge, die mich in weniger als einer Sekunde in zwei Hälften spaltete. Sie nannten es Geburtsdepression, und das Leben wurde nie mehr wie früher. Der größte Teil jenes Jahres liegt für mich im dunkeln.
Es ist dunkel hier. Es ist eine Großstadt, und dennoch ist es nachts dunkel, die Sterne leuchten blendend weiß auf dunklem Grund. Der Himmel über New York ist ein gelblicher, transparenter Schirm, der die ganze Nacht hindurch in gleitenden Rhythmen die Lichtreklamen reflektiert. In Damaskus beginnt die Nacht direkt über der Straßenbeleuchtung und wölbt sich dunkel über die Stadt.
Ich öffnete die Tür und schaute über eine Landschaft, die ich nicht kannte: eine Hochebene mit großen Bäumen, die Kronen waren schwer und dicht. Kein Lufthauch rührte sich, kein Mensch war zu sehen, kein Laut zu hören. Was war hier los? Was machte es so unheimlich? Eine Eiseskälte schlug mir entgegen, und mir wurde klar, daß die Landschaft schwarz war, die Schatten dünn und kerzengerade. Die dichten Baumkronen, die dicken Stämme waren nur wenig schwärzer als der Raum zwischen ihnen. Die Bäume warfen dünne weiße Schatten auf die Ebene, die mit Tusche gemalt war.
»Dreh dich um!« Die Stimme kam von hinten. Aber ich konnte nicht. Die Aussicht über die Hochebene sickerte langsam wie eine schwere Mattigkeit in mich hinein und ließ jede Bewegung zu einer Kraftanstrengung werden. Langsam und roboterhaft drehte ich den Kopf und die Schultern, und das Haus hinter mir stand in Flammen.
Ich erwache von meinem eigenen Schrei. Und das ist gut so, denn zehn Minuten später wäre die Badewanne übergelaufen. Die Luft, die durch die Balkontür hereindringt, ist kalt, und der Muezzin ruft vom Minarett gegenüber zum Gebet. Das ist wirklich und kein Traum.
Es ist wie ein böser Traum, der in Erfüllung gegangen ist. Seit ich sie getroffen habe, hatte ich Angst, sie zu verlieren. Als Kinder spielten Hannah und ich eine Zeitlang das Brettspiel Mühle. Das war im Sommerhaus, und ich habe in Erinnerung, daß wir die ganze Zeit Mühle spielten, und es hat die ganze Zeit geregnet. Sinn des Spiels ist, die Steine des anderen zu erobern, und mit dem letzten entscheidenden Zug kann der Gewinner seine Steine so setzen, daß der andere verliert, egal ob er die Steine nach oben oder unten schiebt. Dies nennt man Zwickmühle, und der Verlierer kann seine Steine schieben, wohin er will, er bekommt sie einen nach dem anderen einfach abgeschlachtet. Es wurde bei mir zu einem wiederkehrenden Traummuster, kein richtiger Alptraum, eher ein Zwangstraum. Ich spielte immer mit den schwarzen Steinen. Im Traum gab es jede Menge Steine, Hannah schob ihre weißen Steine nach oben und schlug meine schwarzen, ich schob meine schwarzen dahin, wo ihre weißen standen, bereit, mich zu verteidigen. Egal was ich tat, ich verlor immer. Jetzt ist der Traum wahr geworden, in der letzten Zeit hatte ich gewußt, daß ich Samia verlieren würde, sowohl wenn ich sie fahren ließe als auch, wenn ich sie bitten würde zu bleiben. Oder noch schlimmer, ich hatte keinerlei Einfluß auf ihre Wahl, es war, als hätte ich von vornherein verloren, schon bevor die Steine aufgestellt waren. Und welches Recht hatte ich, sie zu bitten zu bleiben?
»Ist dir eigentlich klar, wie lächerlich es ist, auf eine ganze Kultur eifersüchtig zu sein?«
Ich wußte, sie hatte recht, und ich hatte verloren. Die Niederlage ist eiskalt.
Der Winter in Syrien ist kalt. Das Wetter ist sehr extrem. Wenn es regnet, dann öffnet der Himmel die Schleusen, und wenn es nicht regnet, wie heute, dann knallt die Sonne vom Himmel. Ich sitze auf meiner Terrasse, die so groß ist wie der Platz vor dem Rockefeller Center, als ich klein war. Alles im Orient Palace ist groß angelegt, in einem Befehlston ausgeführt, mit einem imperialistischen Unterton, um danach vergessen zu werden. Die Zimmermädchen laufen mit hellblauen Schürzen und einem Federbesen herum. Der Staubsauger ist hier noch nicht erfunden, glaube ich. Und was ist mit der Waschmaschine? Ich habe einen Plastikstuhl auf die Terrasse gestellt, und kaum habe ich meine Slips zum Trocknen aufgehängt, sind sie es schon. Zu Hause stehen sie mit Schlittschuhen vor dem Rockefeller Center.
Ich bin der einzige Tourist im Orient Palace und ein völlig fremder Vogel, buntschillernd, auch wenn ich mich gedeckt kleide. Meine beigen Hosen und das rosafarbene langärmelige T-Shirt ist eine Farborgie im Vergleich zu den schwarzen Gestalten, die durch die Gänge schweben. Sie kommen in altersschwachen Karawanenbussen, bis unters Dach vollgestopft mit Teppichen, Töpfen und Plastiktüten, die auf den Gehweg quillen, sobald die Tür geöffnet wird. Ich stehe auf der Terrasse und schaue ihnen beim Ausladen zu, auf dem Dach sind unzählige Bündel und unförmige Taschen festgeschnürt, sie stürmen in das Hotel, sie bringen ihre eigenen Pilgerköche mit und einen süßlich-sauren Kohlgeruch. Ich weiß nicht, ob es stimmt, daß Geld nicht stinkt. Aber ich weiß, daß Armut stinkt. Sie haben Proviant für eine Woche dabei, und ich glaube nicht, daß es Kaviar ist. Was immer es ist, ganz bestimmt ist es im Iran billiger, oder vielleicht haben sie es auch nur deshalb dabei, damit sie sich nicht der unangenehmen Erfahrung aussetzen müssen, etwas Neues zu versuchen. Merkwürdig, wie Armut und Konservatismus hier Hand in Hand gehen. Und wenn man bedenkt, daß Reichtum und Konservatismus das ebenfalls tun, ist es unbegreiflich, daß es noch andere politische Ismen auf der Welt gibt.
Gleich nach dem Frühstück beginnt der Pilgerkoch mit der Zubereitung der übrigen Mahlzeiten des Tages, und der unbestimmbare Geruch dringt durch die Halle. Die Frauen nehmen ihr Frühstück für sich ein, und die wenigen Männer, die dabei sind, sitzen an anderen Tischen. Wo sind nur die ganzen Männer? Sind sie im Krieg gegen den Irak gefallen? Bin ich von lauter schwarzgekleideten Witwen umgeben? Ich habe einen Tisch für mich und kann gar nicht aufhören, mich zu wundern. Ich esse mein kleines Brötchen, das grünliche Ei und die Aprikosenmarmelade ganz allein für mich und wundere mich dabei. Wenn ich auch einen Pilgerkoch hätte, würde ich im Orient Palace wohnen bleiben. Ich kann gar nicht genug bekommen von diesem Hotel: so elegant und heruntergekommen, so exponiert und verborgen wie die ganze Stadt. Aber ich kann hier nicht sieben Monate wohnen bleiben, ich muß etwas mit einer eigenen Küche finden, damit ich nicht jeden Abend in ein Restaurant gehen muß. Allein. Gestern war ich im »Alf laila wa laila«; »Thousand Nights and Night« steht unter dem grünen arabischen Neonnamen. Als ich um einen Tisch für eine Person bat, sah der Kellner mich bekümmert an. »Alleine? Warum?« Dann sitzt man da. Viel zu früh, weil mein Magen noch nicht weiß, daß er in einer anderen Zeit ist, und weil mir elf Uhr abends, ganz egal, wo ich mich befinde, sehr spät für das Abendessen vorkommt. Dann sitzt man da, versucht interessiert in seinem Buch zu lesen, während der Kellner und die drei anderen erkälteten Gäste einen mitleidig anschauen. Das halte ich auf Dauer nicht aus, ich muß also etwas anderes finden. Dann am liebsten auch mit Terrasse, Möbeln mit Perlmuttintarsien und dem Alte-Damen-Parfüm der Kriminalschriftstellerin. Ich würde am liebsten hier wohnen bleiben, es müßte auch kein Pilgerkoch sein, ich wäre schon für einen ganz normalen Koch dankbar, Hauptsache, er kocht die Eier nicht grün.
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