Es ist mein erster Tag hier. Alles ist neu, jeder einzelne Gegenstand, jede einzelne Bewegung, jede Geste hat eine Bedeutung und tritt mit halluzinatorischer Überdeutlichkeit hervor.
» Schu hada? « frage ich und zeige auf eine Flasche mit etwas, das Blütenöl sein könnte.
»Das ist nichts für Sie, gnädige Frau!« sagt der Schildkrötenpanzerschlangenhautverkäufer und nimmt mir die Flasche aus der Hand. Die Röte steigt mir vom Hals übers ganze Gesicht. Ich dachte, man entwächst dem Erröten; ich hoffe es immer noch, es ist so peinlich, auch für denjenigen, der zusehen muß, wie die Maske Feuer fängt.
»Das ist, verstehen Sie, gnädige Frau, ein Spülmittel.«
»Für …?«
»Für Wäsche.«
»Und …?« Die Verblüffung legt sich langsam und der Groschen fällt. Mit so einem Spülmittel brauche ich mich nicht zu befassen, weil Frauen meines Standes dafür Personal haben.
»Hello Lady, welcome to Damascus!« Man sieht mir sogar von hinten an, daß ich hier fremd bin, und dabei hatte ich mir eingebildet, ich sei einheimisch gekleidet: langer, blauer Mantel und ein Schal um den Kopf. Den Schal kann ich auch abnehmen, er rutscht sowieso dauernd herunter. Jede zweite Frau trägt kein Kopftuch. Genau wie die Männer sind die Frauen sehr unterschiedlich gekleidet. Zum Beispiel die Frau da drüben in hellvioletten Hosen, die so eng sind, daß sie wie aufgemalt aussehen, ihre Augen und Lippen sehen auch wie aufgemalt aus, und dann die beiden Frauen, die nebeneinander gehen, und die so zugehängt sind, daß man nicht weiß, ob sie vorwärts oder rückwärts gehen. Die schwarzen Mäntel reichen bis zur Erde und bis hinauf zum Hals, die Hände, das Gesicht, die Haare und der ganze Kopf sind bedeckt wie ein Vogelbauer in der Nacht. Die Welt muß von da drinnen schwarz aussehen, es muß merkwürdig sein, von der Mutter an der behandschuhten Hand geführt zu werden und das Nein auf das Betteln nach Süßigkeiten von einer Stimme aus dem Dunkel zu bekommen.
Es ist mein erster Tag hier. Alles ist neu, und doch ist da ein traumartiges Wiedererkennen und das blubbernde Gefühl, nach Hause gekommen zu sein: gezeugt oben in Abu Rumaneh, geboren im Amerikanischen Krankenhaus von Amman und im Kinderwagen durch den Tischrinpark geschoben. Ich bin nicht mehr hier gewesen, seit ich ein Baby war, und doch erfüllt mich Wiedersehensfreude.
Es gibt zwei Dinge, die ich richtig gut kann, das eine ist, mich zu verirren. Wie nichts verliere ich die Orientierung und verlaufe mich mitten auf einem Fußgängerübergang zu Hause in New York. Ich will nicht behaupten, daß das hier nicht passieren wird oder daß es nicht schon passiert ist, ohne daß ich es gemerkt habe, aber ich habe ein Gefühl für die Anatomie der Stadt, mit der »Geraden Straße« als Aorta mitten hindurch.
Ich bin sicher, die Stadt ist ein Teil von mir, von meinem Aderngeflecht, weil ich hier entstanden bin. Oder bilde ich mir das alles nur ein?
Es blubbert in mir, weil ich wieder hier bin, und weil ich es mir so lange gewünscht habe, so lange dafür gekämpft habe. Seit ich fünf war, wußte ich, daß dies der Ort ist, nach dem ich mich sehne, früher war es nur wie ein Hunger. Seit ich acht war und die »Halbmonde« verstand, bekam der Ort hier Geschmack und Farbe.
»Vater, liest du mir noch einen ›Halbmond‹ vor?« Ich verstand noch nicht, warum auf dem Buch ein Halbmond war. So viele Nächte und so viele Geschichten, da mußte es Vollmond werden, so wie ich ihn einmal direkt vor meinem Fenster gesehen hatte, er war größer als alles andere gewesen, stürzte fast ins Haus und war ganz orange. Ich war total verängstigt, dann schwebte er davon und glitt über den Himmel, weiß, rund und wieder er selbst. So groß und so gefährlich mußten Tausendundeine Nacht sein, » Alf laila wa laila «, brachte mein Vater mir bei zu sagen, und für viele Jahre war es das einzige, was ich auf arabisch sagen konnte. Alf laila wa laila schmeckte gut und nach Mond, wie weißes Weingummi. Aber er lag auch noch, der Halbmond auf dem Umschlag des Buchs. Das war auch merkwürdig. Und Vater erzählte mir, daß der Mond dort, wo ich geboren bin, liegt. Ich war fünfundzwanzig, als ich das Alphabet lernte, und dreißig, als ich Zeit hatte, mich mehr damit zu beschäftigen, und jetzt ergeben die Laute Sinn. Manche allerdings nicht. Es braust in mir, weil der Wunsch, hier zu sein, Wirklichkeit geworden ist. Der Traum, hierher zu kommen und zu arbeiten, ist so lange in mir gereift, daß der Beschluß beinahe nebenbei gefaßt wurde. Aber der Weg vom Beschluß zur Umsetzung wurde untergraben von Isaks Zorn und war mit unseren Auseinandersetzungen gepflastert. Nicht daran denken. Nicht jetzt. Ich will versuchen, möglichst nicht an Isak zu denken. Versuchen, möglichst nicht an zu Hause zu denken. Und nicht an meinen Vater und meine Mutter.
Als ihre Mutter muß ich denken, daß sie wohl intuitiv nach Damaskus fährt, um einzutauchen in die Zeit, als wir glücklich miteinander waren, A. S. und ich. Es war seine erste Stationierung im Ausland, wir stahlen uns oft weg von den Cocktailpartys und fuhren nach Hause nach Abu Rumaneh, wo wir wohnten.
Es ist merkwürdig, aber eine Frau weiß eigentlich immer, wann sie ihr Kind empfangen hat. Von allen Liebesnächten war es genau die eine. Die Augustnächte sind im Nahen Osten brennend heiß. Der Ventilator, den wir an der Dekke hatten und der die Luft durcheinanderwirbelte, war eigentlich mehr aus psychologischen Gründen da; man hatte wenigstens das Gefühl, daß etwas unternommen wurde, um die wahnsinnige Hitze zu vertreiben. In der Nacht, als Samia entstand, lag der Mond leuchtend weiß und hoch über uns, kühl in dieser heißen Nacht. Bevor wir einschliefen, ich lag mit dem Gesicht an seinem schweißfeuchten Hals, flüsterte ich, daß sein neuer Name von jetzt an A. S. sein würde. Ich weiß noch, daß er lächelte, vielleicht weil er sich freute, er hat bestimmt nicht verstanden, was ich meinte, aber als ich vier Tage über die Zeit war, sagte ich zu ihm, A. S. bedeutet » Abu Someone , Vater von jemandem«. In meiner Erinnerung sind die Tage und Nächte, bevor sie geboren wurde, unsere glücklichsten. Voller Erwartung. Meine Familie wollte, daß ich für die Geburt nach Hause käme, aber ich war der Meinung, das Amerikanische Krankenhaus von Amman wäre ausreichend. Vielleicht hatte ich intuitiv Angst, unser Seifenblasenglück könnte zerplatzen, wenn ich zu lange weg wäre. Später mußte ich erfahren, daß es nichts mit physischem Abstand zu tun hat. Geschah es schon gleich nach ihrer Geburt? Ich erinnere mich nicht. Alles nach dem 15. Mai, das ganze folgende Jahr, liegt in völliger Dunkelheit vor mir. Obwohl er an meiner Seite war, hatte ich ihn verloren, meinen Mann.
Sie stellte mich immer als ihren Mann vor, obwohl wir nicht verheiratet waren. Schon als wir uns das erste Mal trafen, wußte ich, daß es ernst war.
Es ist eine dunkle Nacht ohne Mond, und ich kann nicht schlafen. Dort drüben bei Samia ist es schon morgen. Sie ist neun Stunden vor der amerikanischen Zeitrechnung und fast einen halben Tag weiter als ich. Die Tage und Nächte sind neu und unverbraucht, wenn sie zu ihr kommen, die Sekunden, die sie heute morgen eingeatmet hat, sind verbraucht, wenn sie zu mir herüberkommen. Die Zeit kommt wie eine frische Brise über die Levante, dort, wo die Sonne aufgeht, dort, wo sie ist. Um sie ist es hell, und seit vorgestern, seit wir uns verabschiedet haben, bin ich wie von Dunkelheit umgeben. Die Sekunden werden zu Minuten, die Minuten zu Stunden. Ich schaue zu, wie die Zeit vergeht, rot und leuchtend neben dem Bett, rote Zahlen, die goldene Sekunden waren, heute morgen auf der anderen Seite der Erde. Sekunden, die sie mit Handlungen und Erlebnissen gefüllt hat und die jetzt nur gleichgültige, eckige Zahlen sind. Selbst die weiblichste aller Zahlen besteht auf dem Display des Uhrenradios aus zwei übereinandergesetzten Vierecken; die Zeit macht ihre Arbeit neben meinem Bett. Unserem Bett. Bis vor drei Nächten lag sie hier neben mir in unserem Bett. Es ist lange her, daß wir uns geliebt haben, ein halbes Jahr vielleicht. Es muß im August gewesen sein, in dem Monat, in dem der Sommer die angestaute Hitze freigibt und in die herannahende Kälte des Herbstes vorstößt. In so einer Nacht war es, in der die Zukunft von außen herangerollt kam und mit einem gewaltigen Krachen in die Vergangenheit stieß und in der wir uns das letzte Mal liebten. Die Blitze erhellten ihr Gesicht, das unter mir ganz weiß leuchtete. Ich liebte und haßte sie gleichzeitig. Und ebenso heftig. Ich liebte sie, als diejenige, die sie war, und haßte sie für das, was sie wollte. Warum suchte sie sich ausgerechnet ein Land aus, das mir die Einreise verweigert? Ein Land, das im Krieg mit Israel liegt und das nur im Notfall und unter großen Vorbehalten einer Person mit jüdisch klingendem Namen ein Visum gibt? Ich kann das nur als eine Entscheidung gegen mich sehen. Sie wurde nicht von der Zeitung darum gebeten, es war ihre eigene Idee, sie hat der Zeitung vorgeschlagen, eine Serie über Intellektuelle in Syrien und im Libanon zu machen. Sie war wie besessen von ihrem Plan, wie verliebt. Sie sprach von nichts anderem mehr, las und interviewte Leute, die Kontakte dorthin hatten. Ich will überhaupt nicht daran denken, wie oft wir uns deshalb gestritten haben. Ich will überhaupt nicht verstehen, warum sie es macht. Ich will den Weg nicht finden, und ich weiß nicht, wie ich aus dieser Dunkelheit, die mich umgibt, herausfinden soll. Ich sehne mich nach ihr. Und ich bin wütend auf sie. Diese beiden Gefühle stoßen in mir aufeinander, wie bei einem Gewitter, deshalb kann ich nicht schlafen. Ein Elektrisiertsein und ein Zittern im Körper, wie wenn sie mir ins Ohr pustet.
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