Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Kurt Reumann / Thomas Petersen (Hrsg.)
Nirgends scheint der Mond so hell wie über Berlin .
Antisemitismus und die Schwächen unserer Gesprächskultur
Köln: Halem, 2021
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© 2021 by Herbert von Halem Verlag, Köln
ISBN (Print): 978-3-86962-600-0
ISBN (PDF): 978-3-86962-601-7
ISBN (ePub): 978-3-86962-602-4
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SATZ: Herbert von Halem Verlag
LEKTORAT: Rüdiger Steiner, Volker Manz
DRUCK: docupoint GmbH, Magdeburg
TITELFOTO: Frank Ebeling, Berlin
GESTALTUNG: Claudia Ott, Grafischer Entwurf, Düsseldorf
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Kurt Reumann / Thomas Petersen (Hrsg.)
Nirgends scheint der Mond
so hell wie über Berlin
Antisemitismus und die Schwächen
unserer Gesprächskultur
KURT REUMANN
Der Mond ist in der Leipziger Straße am größten. Über das Heimweh vieler Juden in aller Welt nach Berlin
I. ANTISEMITISMUS IN DEUTSCHLAND
HEINRICH AUGUST WINKLER
Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik und der Antisemitismus
THOMAS PETERSEN
Wie antisemitisch ist Deutschland?
SYBILLE STEINBACHER
Katastrophe, Verderben, Vernichtung. Vom Schweigen über den Holocaust und dem langen Weg zum Begriff
STEFAN LOCKE
Die Gleichgültigkeit ist die größte Gefahr. Über jüdisches Leben in Thüringen, Antisemitismus und die Folgen des Einzugs der AfD in den politischen Alltag. Ein Interview mit Reinhard Schramm, Stephan Kramer und Alexander Nachama
II. ANTISEMITISMUS IN EUROPA UND IN DER ISLAMISCHEN WELT
WOLFGANG GÜNTER LERCH
Über Antisemitismus im Islam
GINA THOMAS
Antisemitismus ausgerechnet in der Labour Party
JÜRG ALTWEGG
Europa ohne Juden? Frankreich im Taumel des Antisemitismus
III. PROBLEME DER KOMMUNIKATION
ZE'EV AVRAHAMI
Über Zwiebeln, Appeasementpolitik und die Lüge als neue Wahrheit
KURT REUMANN
Kämpfen und kochen gegen Rassenhass. Was Ze’ev Avrahami uns zu sagen hat
HANS MATHIAS KEPPLINGER
Vertrauensverlust
KURT REUMANN
Streiten nach allen Regeln der Kunst. Von Abaelard bis Moses Mendelssohn und Nathan dem Weisen
KURT REUMANN
Streit als Leistungssport
KURT REUMANN
Das Internet macht alles schlimmer. Wie die neuen Medien Antisemitismus verbreiten. Ein Interview mit Monika Schwarz-Friesel
Vor und nach Auschwitz. Eine Literaturliste für Jugendliche und Erwachsene
Autorinnen und Autoren
Register
KURT REUMANN
Der Mond ist in der Leipziger Straße am größten. Über das Heimweh vieler Juden in aller Welt nach Berlin
Selten hat mich etwas so getroffen wie Ze’ev Avrahamis Vorwurf: »Ihr habt uns im Stich gelassen!« Mit »ihr« meint der deutsch-israelische Journalist die dritte Generation der ›Post-Holocaust-Deutschen‹, mit »uns« die jungen Juden, die nach Deutschland gezogen sind, weil sie dachten, im inzwischen geläuterten ›Land der Täter und ihrer Enkel‹ könnten sie unbehelligt als Juden leben – freier, geselliger und solidarischer als woanders in der Welt. Avrahamis Anklage muss als Hilferuf verstanden werden. Zweieinhalb Jahre vor dem Anschlag auf die Synagoge in Halle erhoben, klingt er heute umso dringlicher.
Nahezu 2.000 Jahre haben die Juden in der Diaspora als verfolgte Minderheit gelebt. 1Fast immer und fast überall saßen sie in Sorge, ihre neue Heimat verlassen zu müssen, auf ihren Koffern, und Avrahami weiß darüber zu berichten, dass manche seiner Freunde schon wieder ihre Koffer packen. Aber es ist doch sehr die Frage, ob sie auch wirklich fortziehen. Wohin sie sich auch wenden mögen, bedroht sind sie überall – und zwar stärker als in Deutschland. Über den mehrfach wiederholten Aufruf des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu an die Juden Europas, nach Israel ›heimzukommen‹, kann Avrahami nur lachen. Bitter lachen. Es ziehen erheblich mehr Juden nach Deutschland, als Juden Deutschland den Rücken kehren. Allein nach Berlin sind im Laufe der Jahre 20.000 Juden aus Israel gekommen. In dem Dokumentarfilm Germans and Jews lässt die New Yorker Regisseurin Janina Quint einen Globetrotter zu Wort kommen, der beteuert: »Ehrlich, ich fühle mich in Deutschland sicherer als in Israel.« Berlin fänden junge Leute inzwischen »heißer als New York«. Dabei gilt es zu beachten, dass der Film, der seit 2020 auch in deutschen Kinos gezeigt wird, bereits 2016 gedreht worden ist. 2
Zwar sorgt sich Felix Klein, seit 2018 Antisemitismus-Beauftragter der Bundesregierung, dass der Hass auf Juden in Berlin besonders schlimm wüte. Die polizeiliche Kriminalstatistik zählt pro Tag vier judenfeindliche Gewalttaten in Berlin. Aber Klein hat auch Augen für die positive Seite: In der deutschen Hauptstadt sind Juden besonders gut integriert. Alle Provokationen, alle Händel ändern daran nichts. Reicht das aus, um jüdische Globetrotter einzuladen, weiter von Berlin zu träumen? Ja, beteuert die 33 Jahre alte Autorin Deborah Feldman, die nach der Trennung von der orthodoxen Glaubensgemeinschaft der Chassiden mit ihrem damals drei Jahre alten Sohn durch die Vereinigten Staaten, Frankreich, Spanien und Skandinavien vagabundierte, um endlich eine neue Heimat an der Spree zu finden.
Berlin, Berlin! Warum sie sich dort so wohlfühlt? Zitat: »Für jemanden wie mich, einen wurzellosen Wanderer, der nirgends richtig hinpasste, fühlte sich Berlin wie der richtige Ort an. Und wirklich, diese Stadt ist ein Zuhause für diejenigen, die keines haben, ein Ort, an dem sogar diejenigen Wurzeln schlagen, die scheinbar gar keine entwickeln können«, schreibt sie in ihrer hinreißenden Autobiografie Unorthodox . Und: »Ich bin frei, ich selbst zu sein, und das fühlt sich gut an.« Für die Verfilmung des Bestsellers Unorthodox hat die deutsche Schauspielerin und Regisseurin Maria Schrader 2020 den US-Fernsehpreis Emmy erhalten. In ihrem zweiten Werk Überbitten schildert Deborah Feldman, wie ihr Leben nach der Befreiung aus den Fesseln der religiösen Ultras weiterging. Sie hat in Berlin neue Freunde gefunden, die ihr Lebensgefühl teilen. 3
Auch Avrahami und seine Ehefrau Kirsten Grieshaber genießen die Berliner Luft. Die gebürtige Rheinländerin, Korrespondentin der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press, hat 2019 unter dem Titel Willkommen im Café Zahav. Meine israelische Mischpoke und ich ein Buch über Avrahamis Restaurant ›Sababa‹ geschrieben. 4›Sababa‹ heißt auf Deutsch: ›Alles in Butter!‹ Aber es ist längst nicht mehr alles paletti. Immer seltener kamen gesprächsoffene arabische und deutsche Gäste, für die Avrahami seine kulinarischen Friedensangebote nach arabischen Rezepten zuzubereiten pflegte. Stattdessen riefen deutsche Rechtsradikale und antisemitisch sozialisierte Araber Hetzparolen ins Lokal. Inzwischen hat Avrahami es geschlossen, um sich ganz auf seine journalistische Arbeit zu konzentrieren.
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