11. Eine bunte Gesellschaft, wie wir sie heute bilden, braucht einen festen Kitt, der sie zusammenhält. Wir müssen darüber diskutieren, ob unser Verfassungspatriotismus als soziales Bindemittel ausreicht. Wie stark muss die Durchlässigkeit der einzelnen Bezugsgruppen sein, damit vermieden wird, dass wir in Parallelgesellschaften leben? Schließen die Kulturen der Herkunftsländer und unsere Lebensart und unser Geistesleben einander aus, oder können sie einander befruchten?
Die stärkste Bindekraft entwickeln die gemeinsame Arbeit und das gemeinsame Feiern. Vom Kochen und Essen bis zum Singen und Musizieren, vom Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielen bis zum Wandern und Tanzen, von Sportveranstaltungen und Karnevalszügen bis zu Schulfesten und Klassenfahrten fördert alles den Gemeinschaftssinn und das gegenseitige Vertrauen, was wir mit anderen planen und durchführen. 21Die Corona-Pandemie führt uns das schmerzlich vor Augen.
12. In ihrem Eifer für reines Deutschtum gehen der inzwischen aus dem staatlichen Schuldienst entlassene Berliner Grundschullehrer Nikolai Nerling und seinesgleichen so weit, zu bestreiten, dass Werke jüdischer Dichter und Musiker zur deutschen Kultur gehören. Heinrich Heine, Rahel Varnhagen von Ense, Franz Kafka, Alfred Döblin, Ernst Toller, Erich Mühsam, Franz Werfel, Kurt Tucholsky, Paul Celan, Hilde Domin, Lion Feuchtwanger, Friedrich Torberg, Hannah Arendt keine deutschen Schriftsteller und Dichter? Felix Mendelssohn Bartholdy, Gustav Mahler, Kurt Weill, Friedrich Hollaender keine deutschen Komponisten? Moritz Daniel Oppenheim, Max Liebermann, Ludwig Meidner, Eva Hesse keine deutschen Maler? 22Dass die Bevölkerung darüber so wenig weiß, hält Ze’ev Avrahami für viel ärgerlicher als alle Gehässigkeiten.
Es genügt nicht, Juden zuzubilligen, dass sie bei uns nach ihrer Façon selig werden: Macht doch, was ihr wollt, und damit Schluss! Wir müssen begreifen, was Juden seit dem Mittelalter und zumal im 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts für uns geleistet haben. Zwischen Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Sigmund Freud und Albert Einstein haben deutsch-jüdische Philosophen, Politologen, Ärzte, Bakteriologen, Physiker, Psychologen, Juristen und Schriftsteller Deutschland in aller Welt einen Namen gemacht. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs deutet es sich zum ersten Mal, wenn auch zart, an, dass Juden wieder zur Hefe in unserem Geistesleben werden könnten. Das dürfen wir uns nicht von Fanatikern und Irren kaputtmachen lassen.
13. In einer Welt, in der sich so viel verändert, muss die Familie Ankerplatz und Umschlagshafen sein. Die Bücher, die hier vorgestellt worden sind, verraten, dass unsere Kraft viel stärker, als uns bewusst ist, aus der Familie fließt. Und sie beweisen, dass wir reif dafür sind, in der Familie mehr miteinander zu reden und zu diskutieren, auch über unsere Vorfahren. Wieviel wir daraus lernen können, haben uns Wibke Bruhns, Maxim Leo und Kirsten Grieshaber gezeigt. 23Auch in diesem Zusammenhang sind Maxim Leo: Haltet euer Herz bereit. Eine ostdeutsche Familiengeschichte und sein zweites Buch: Wo wir zu Hause sind hervorzuheben. 24Desgleichen Kirsten Grieshaber: Willkommen im Café Zahav. Meine israelische Mischpoke und ich. 25 Es sind nicht Gedichte, die typisch sind für die jüdische Literatur seit der Schreckenszeit von 1933 bis 1945 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern diese Familienromane, aber auch Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungsberichte aus den Konzentrationslagern sowie Romane darüber. Die Juden suchten den Frieden mit sich selbst und mit der Welt. Shalom!
14. Wir dürfen Erziehung nicht vollends an die Schule delegieren. Die Lektüre der hier vorgestellten Bücher greift auch Jugendlichen ans Herz. Für Kinder ist nach wie vor Judith Kerrs Als Hitler das rote Kaninchen stahl am besten geeignet. 26Die im vergangenen Jahr in London verstorbene Autorin war die Tochter des legendären jüdischen Theaterkritikers Alfred Kerr. Annemarie Böll, die Ehefrau von Heinrich Böll, hat es aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Empfohlen sei außerdem Tahar Ben Jellouns Papa, was ist ein Fremder? 27Der marokkanische Schriftsteller und Psychotherapeut beantwortet seiner Tochter Fragen wie: »Sind Ausländer anders als wir?« und »Ist Rassismus normal?«
15. Alle diese Bücher sind erfüllt von Familienstolz. Die beschriebenen Väter und Großväter haben sich bei allen Schwächen bravourös geschlagen. Die Bestseller sind daher vorbildlich, aber nicht typisch für deutsche Familiengeschichten. In der Regel wird viel mehr beschönigt und beschwiegen. Wer das vermeiden will, lese das Buch der Islamwissenschaftlerin Alexandra Senfft Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte sowie den von Alexandra Senfft herausgegebenen Band Der lange Schatten der Täter. Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte . 28
Wären wir nach den traumatischen Verletzungen durch den Zweiten Weltkrieg und die Nazi-Verbrechen wieder normal, hätten wir einen anständigen Geschichtsunterricht und einen Literaturkanon, und an der Spitze des Kanons stünde neben dem unvermeidlichen Goethe Lessings Toleranzdrama Nathan der Weise . Im fächerübergreifenden Unterricht würde erörtert, warum Lessings Freund Moses Mendelssohn ein so treffliches Vorbild für Nathan den Weisen abgegeben hat. An der Geschichte der Familie Mendelssohn würde illustriert, warum Juden konvertierten, um gesellschaftliche Anerkennung zu erfahren. Und dass Moses Mendelssohns Enkelsohn Felix Mendelssohn Bartholdy und seine kongeniale Schwester, die geliebte Fanny, uns nicht nur um unsterbliche Lieder, Sonaten und Sinfonien bereichert, sondern auch Johann Sebastian Bach für uns wiederentdeckt haben. Womöglich würde ohne diese Bach-Renaissance der Jubel des Weihnachtsoratoriums gar nicht unsere Kirchen erfüllen: Jauchzet, frohlocket …
Doch weil wir nicht normal sind, provozieren wir Herausgeber unsere Leser mit Thesen, die eigentlich Selbstverständlichkeiten sind.
1 Vgl. BERND MARTIN; ERNST SCHULIN (Hrsg.): Die Juden als Minderheiten in der Geschichte . München [Deutscher Taschenbuch Verlag] 1983; PETER SCHÄFER: Kurze Geschichte des Antisemitismus . München [Beck] 2020; WERNER BERGMANN: Geschichte des Antisemitismus . 6. überarb. Aufl. München [Beck] 2020.
2 Vgl. https://germansandjews.wfilm.de[30. Juni 2020].
3 DEBORAH FELDMAN: Unorthodox: The Scandalous Rejection of My Hasidic Roots . New York [Simon & Schuster] 2012. Deutsch: Unorthodox. Eine autobiographische Erzählung . München [Beck] 2019.
4 KIRSTEN GRIESHABER: Willkommen im Café Zahav. Meine israelische Mischpoke und ich . Köln [Bastei Lübbe] 2019; Kritik und Entsetzen nach Angriff auf jüdisches Restaurant. In: Der Tagesspiegel vom 9. September 2018; Ermittlungen nach Angriff auf jüdisches Restaurant eingestellt. In: Jüdische Allgemeine vom 14. Dezember 2020.
5 SOPHIA MOTT: Dem Paradies so fern. Martha Liebermann . Berlin [Ebersbach & Simon] 2019.
6 Vgl. URSULA HOMANN: Juden in Goethes Werken . http://www.ursulahomann.de/GoetheUndDasJudentum/kap006.html[30. Juni 2020].
7 Vgl. MICHAEL BERGER: Eisernes Kreuz und Davidstern. Die Geschichte jüdischer Soldaten in deutschen Armeen . Berlin [trafo] 2006.
8 HORAZ: Carmina 3,2,13.
9 AVI PRIMOR: Süß und ehrenvoll . Köln [Quadriga] 2013.
10 LION FEUCHTWANGER: Die Geschwister Oppermann . München [Langen Müller] 1960.
11 ROMAN FRISTER: Ascher Levys Sehnsucht nach Deutschland . Berlin [Siedler] 1999.
12 GABRIELE TERGIT: Effringers . Hamburg [Hammerich & Lesser] 1951. Neuausgabe München [Beck] 2020.
13 JULIANE SUCKER: »Sehnsucht nach dem Kurfürstendamm«. Gabriele Tergit – Literatur und Journalismus in der Weimarer Republik und im Exil . Würzburg [Königshausen & Neumann] 2015.
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