Nach demselben Muster sollen auch andere jüdische Gastwirte zum Aufgeben gezwungen werden. Im Dezember 2018 stand ein alter deutscher Mann vor Yoray Feinbergs Restaurant im Berliner Gründerzeit-Viertel Schöneberg und rief ihm (vor laufender Kamera) zu, Juden sollten in die Gaskammern zurückkehren. Weil Feinberg mit Anzeigen keinen Erfolg hatte, sammelte er die Schmähbriefe an ihn und die Morddrohungen auf Facebook: 31 Seiten Hass. Im September 2018 bewarf ein Dutzend schwarz gekleideter Vermummter das koschere Restaurant ›Schalom‹ in Chemnitz mit Steinen, Flaschen und einem abgesägten Stahlrohr. Als der Besitzer des Lokals, Uwe Dziuballa, von den Geräuschen alarmiert, vor die Tür trat, drangen die schwarzen Gesellen mit den Worten »Hau ab aus Deutschland, du Judensau« auf ihn ein und verletzten ihn durch einen Steinwurf an der Schulter. Die Ermittlungen gegen die Täter sind eingestellt worden. Das verstehe, wer will.
Ich kehre zu den Liebeserklärungen an Berlin zurück – aber mit einem Kloß im Hals. Womöglich noch stärker fühlen sich diejenigen Juden von der deutschen Hauptstadt angezogen, die dort alte Freunde haben, weil sie mit Spreewasser getauft worden sind. Sophia Mott hat in ihrem Buch über Martha Liebermann geschildert, wie die Treue zu Berlin der Tochter eines jüdischen Kaufmanns zum Verhängnis wurde. Ihr Mann, der jüdische Impressionist Max Liebermann, war in seinen letzten Lebensjahren antisemitischen Angriffen ausgesetzt gewesen und musste als Ehrenpräsident der Akademie der Künste zurücktreten. »Ick kann jar nich so ville fressen, wie ick kotzen möchte«, schimpfte er berlinernd über die Nationalsozialisten. Schon die Ermordung seines Verwandten und Weggefährten Walther Rathenau, des deutsch-jüdischen Außenministers, im Juni 1922 hatte Liebermann tief erschüttert. Trotzdem liebte er Berlin, was er mit den Worten eines Malers und Augenmenschen so ausdrückte: »Der Mond ist in der Leipziger Straße am größten.« 1935 starb der Künstler. Seine Witwe konnte sich trotz wachsender Gefahr nicht von Berlin und vom Grab ihres Mannes trennen. Als sie, ihrer Habe beraubt, 1943 zur Deportation nach Theresienstadt abgeholt werden sollte, nahm sie sich das Leben. 5
Max Liebermann gehörte zu den Juden, die sich im August 1914 vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs für ein Zusammenstehen aller Deutschen eingesetzt hatten. Auf einem Flugblatt zeichnete er die Volksmenge, die im Lustgarten des Berliner Schlosses einer ›Balkonrede‹ Kaiser Wilhelms II. lauscht. Kurz darauf beschwor der Kaiser vor den im Stadtschloss versammelten Reichstagsabgeordneten die nationale Einheit und appellierte an die ›Liebe und Treue‹ der Abgeordneten wie der Bevölkerung. Legendär geworden ist sein Ausspruch: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.« Die meisten deutschen Juden verstanden diesen Satz wie Liebermann als Aufruf an sich selbst. Sie sahen in der Mobilisierung die Chance, Bürger unter Bürgern mit den gleichen Rechten und Pflichten zu werden. In ihrem Pflichteifer und ihrer Opferbereitschaft wollten sie sich von niemandem übertreffen lassen.
An Patriotismus und Einsatzbereitschaft haben es die Juden seit jeher nicht fehlen lassen. 1817 hat Goethe vorgeschlagen, die Feier des 300. Jubiläums der Reformation nicht allein den Protestanten zu überlassen. Vielmehr möge man sie auf den 18. Oktober verlegen, den Gedenktag an die Leipziger Völkerschlacht. Dieser Tag, an dem sich Russland, Preußen, Österreich und Schweden vom Joch Napoleons befreiten, verdanke seine Glorie nicht etwa nur Christen, sondern auch den Juden, Mohammedanern und Heiden, argumentierte Goethe: Die Juden hätten bei Leipzig als Deutsche mitgefochten. 6
Im Ersten Weltkrieg sind Zehntausende deutscher Juden gefallen oder verwundet worden. 7Die Nationalsozialisten haben die Erinnerung daran systematisch gelöscht, und auch heute ist wenig darüber bekannt, weil sich unsere Aufmerksamkeit auf den Zweiten Weltkrieg und die Bewältigung des Nazi-Erbes konzentriert. Aber wer die Chancen und die Tragik des Zusammenlebens von Deutschen und Juden verstehen will, darf dieses Kapitel nicht vergessen. Das meint auch Avi Primor. Der Diplomat und Publizist, der von 1993-1999 israelischer Botschafter in Deutschland war, erzählt den Ersten Weltkrieg in seinem faktenprallen Roman Süß und ehrenvoll realitätsnah aus der Perspektive zweier jüdischer Frontsoldaten, nämlich der Ludwig Kronheims aus Frankfurt und der Louis Naquets aus Bordeaux, die unversehens aufeinander schießen sollten. Der Titel spielt auf Horaz an: »Dulce et decorum est pro patria mori« – »Süß und ehrenvoll ist, fürs Vaterland zu sterben.« 8Auch Primor berichtet von der Kriegsbegeisterung deutscher Juden bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, von der Hoffnung, endlich für voll genommen zu werden, und von der anschließenden Enttäuschung. 9
Erschütternde Zeitdokumente über die Treue der Juden zu Deutschland und insbesondere zu Berlin, über jüdisch-deutschen Patriotismus, Vertreibung und Trennungsschmerz sind auch Lion Feuchtwangers Roman Die Geschwister Oppermann , 10Roman Fristers Ascher Levys Sehnsucht nach Deutschland 11und Gabriele Tergits fulminanter Familienroman Effingers . Gabriele Tergit ist das Pseudonym für Elise Reifenberg, geborene Hirschmann. Die ehemalige Gerichtsreporterin und Feuilletonistin erzählt die Geschichte dreier Familien über vier Generationen hinweg – von 1878 bis 1948. 12Juliane Sucker beleuchtet in ihrem Buch Sehnsucht nach dem Kurfürstendamm Leben und Werk von Elise Reifenberg, die 1931 an den Effingers zu schreiben begann. 13Der Roman erschien allerdings erst zwanzig aufregende Jahre später: 1951. Schon die Titel dieser Bücher künden vom Trennungsschmerz und einer sentimentalen Schwäche für das bessere Deutschland.
Übrigens ist auch Frankfurt am Main ein Sehnsuchtsort, dem eine Jüdin ein literarisches Denkmal gesetzt hat, nämlich Silvia Tennenbaum. Sie war die Tochter von Erich Pfeiffer-Belli und Charlotte Stern. Mit ihrem Roman Yesterday’s streets schuf sie ein ›Frankfurt aus der Ferne‹. 14Benno Reifenberg, von 1924 bis 1930 verantwortlich für das Feuilleton der Frankfurter Zeitung , hatte ihren Vater 1938 als Kulturredakteur zum liberalen Herzensblatt der bürgerlichen Intelligenz in Frankfurt geholt, das 1856 von den Bankiers Leopold Sonnemann und Heinrich Bernhard Rosenthal gegründet worden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Pfeiffer-Belli in München als Kunst- und Theaterkritiker, vornehmlich für die Süddeutsche Zeitung . 1986 erschien seine Autobiografie Junge Jahre im alten Frankfurt und eines langen Lebens Reise . 15
Silvia Tennenbaum erzählt die Geschichte der Familie Wertheim seit deren Emanzipation aus der Frankfurter Judengasse bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung deportierter Juden aus den Konzentrationslagern. Moritz Wertheim pflegte seinen Enkeln zu erzählen: »Alle Welt spricht von den Rothschilds, aber sie sind nicht die einzige bedeutende Familie, die aus dem Frankfurter Ghetto (in der Judengasse) stammt. Sie sind die reichste, gewiss, aber auch einigen anderen von uns ist es nicht gerade schlecht ergangen.« Weiß Gott nicht! Silvia Tennenbaum lässt das erste Kapitel mit Helenes Geburt im Jahr 1903 beginnen. Lenchen ist die Enkeltochter von Moritz. Sie kam in einer Villa zur Welt, die es heute nicht mehr gibt, weil dort inzwischen die stolzen Doppeltürme der Deutschen Bank aufragen. Wer denkt noch an die Wertheims, wenn er in der Mainzer Landstraße zu den Doppeltürmen hinaufblickt?
Eduard (Edu) Wertheim, Sohn von Moritz und Onkel von Lenchen, war von 1918 an Offizier im Dragonerregiment des Großherzogs von Hessen, das an der Ostfront stand. Im Frühherbst 1918 mit seinem Regiment nach Deutschland zurückgerufen, kam er nach Berlin. Spree-Athen war damals »eine Stadt, die zwischen verzweifelter Fröhlichkeit und immer spürbarer werdender Bedrohung schwankte«. Nicht einmal dass er dort ein magisches Gemälde von Nolde erwerben konnte, einem Maler, von dem man in Frankfurt noch nichts gehört hatte, konnte Eduard mit der verlotterten Hauptstadt versöhnen. Heimat war und blieb für ihn nur Frankfurt. An dieser Stelle höre ich auf, aus Tennenbaums Buch zu referieren. Schließlich will ich dem Leser nicht die Spannung rauben, sondern ihn zum Weiterlesen verführen. Stattdessen wende ich mich jüngeren Arbeiten zu.
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