»Was glaubst du, wie lange sie uns noch warten lassen?« Suzie flüstert, aber ich erschrecke trotzdem fürchterlich. Sie hat mich aus meinen Gedanken gerissen. Ich sehe wieder auf die Uhr. Nur fünf Minuten sind vergangen, seit ich das letzte Mal hingesehen habe.
»Ich weiß nicht. Aber ich hoffe, nicht mehr allzu lange. Ich verhungere.«
»Ich auch. Mensch, ich bin so aufgeregt! Nichts würde mich mehr hier halten, wenn die Obersten mich zu sich riefen.« Suzies Augen leuchten.
Ich kann es mir nicht erklären, aber in diesem Moment unterdrücke ich den Impuls, ihr ins Gesicht zu schlagen. Ich bin unfair und mir meiner gemeinen Gedanken bewusst, aber zum ersten Mal kommt mir in den Sinn, dass es passieren könnte, dass man Suzie tatsächlich rekrutiert, während ich dazu verdammt sein würde, mein monotones Leben fortzuführen. Ich gönne es ihr nicht, obwohl ich mich schlecht dabei fühle.
Ich erwidere nichts, sondern nicke nur. Ich hoffe, sie hat meine Emotionen nicht in meinem Gesicht abgelesen.
Die Tür unter der Wanduhr gegenüber öffnet sich einen Spaltbreit. Eine dunkelhaarige Frau steckt den Kopf ins Wartezimmer. Mein Herz macht einen Sprung und meine Muskeln spannen sich an. Ich balle meine Hände so fest zu Fäusten, das sich die Fingernägel in meine Handflächen graben.
»Nummer 21-19 bitte in den Untersuchungsraum.« Die Stimme der Dame ist nüchtern und zeigt keinerlei Gefühle. Vermutlich ist es für sie Routine. Für mich ist es das nicht.
Ich spüre einen kleinen Stich der Enttäuschung in meiner Brust, als Suzie neben mir ein vergnügtes Quietschen ausstößt und von ihrem Stuhl aufspringt. 21-19 ist ihre Individuennummer, nicht meine. Sie würdigt mich keines Blickes mehr, als sie hinter der Ärztin im Raum gegenüber verschwindet und sich die Tür wieder schließt. Ich ringe mit den Tränen, obwohl mein Verhalten dumm ist. Was interessiert es mich, was Suzie tut? Ihr Leben geht mich nichts an, und würden wir nicht in derselben Kommune leben, würde ich nicht einmal etwas davon mitbekommen, ob sie rekrutiert wird oder nicht. Wir waren nie gute Freundinnen, nur Bewohner desselben Hauses. Anders verhält es sich mit Neal. Ich war so froh gewesen, als man ihn im letzten Jahr nicht zur Brücke gerufen hatte. Ob er sich dieses Mal ebenso wünscht, dass ich für untauglich erklärt werde? Einerseits macht es mich wütend, andererseits kann ich ihn verstehen. Es würde mir nicht leicht fallen, ihn zurückzulassen. Dennoch möchte ich nicht mein Leben lang auf den Augenblick gewartet haben, um Tränen zu vergießen, sollte er sich nähern. Zudem ich ohnehin keine Wahl gehabt hätte. Die Obersten würden ihre Auserwählten notfalls mit Gewalt von Zuhause abholen, dessen bin ich mir sicher.
Ich starre auf meine Schuhe. Sie sind gelb, genau wie mein Anzug. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich in den schwarzen Anzügen der Obersten aussehen würde. Ein dummer Gedanke. Ich sollte mich stattdessen lieber darauf einstellen, abgewiesen zu werden.
Ich weiß nicht, wie lange ich noch in dem weißen Raum sitze und außer dem leisen Ticken der Uhr nichts höre. Es ist zwanzig Minuten vor acht. Um acht gibt es Frühstück im Park. Ich werde nicht pünktlich sein. Es ärgert mich, weil mein Magen noch immer knurrt. Je länger ich im Wartezimmer sitze, desto größer wird mein Frust, der schließlich sogar meine Anspannung überdeckt. Schon bald wünsche ich mir, die Untersuchung wäre schon vorüber und ich wäre wieder bei Carl und Neal daheim.
Dann endlich öffnet sich erneut die Tür. Wieder sehe ich in das Gesicht der blassen Ärztin.
»Nummer 4-19«, sagt sie ebenso nüchtern wie zuvor.
Nun geht es also los. Ich atme einmal tief ein und stehe von meinem weißen Plastikstuhl auf. Meine Knie zittern. Ich schlüpfe durch die Tür, die die Ärztin direkt hinter mir wieder schließt. Der Raum, in den sie mich gebeten hat, ist kleiner als das Wartezimmer. Ich bin ein bisschen enttäuscht, obwohl ich nicht sagen kann, weshalb. Ich hatte mir alles größer und faszinierender vorgestellt. An einer Wand ist eine Liege, die fast genauso lang ist wie der Raum breit. Daneben ist eine weitere Tür. Ich nehme an, durch die ist Suzie nach ihrer Untersuchung gegangen, denn ich habe sie nicht durch das Wartezimmer gehen sehen. Ich hatte gehofft, in ihrem Gesicht vielleicht ablesen zu können, was mich erwartet, wenn sie das Untersuchungszimmer verlässt, doch diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt.
Im Zimmer gibt es neben der weißen Liege noch einen runden Hocker und an der dritten Wand eine hüfthohe weiße Kommode mit zahlreichen Schubladen. Am Fußende der Liege steht eine silberne, flache und rechteckige Schale, in der eine Nadel und drei Plastikröhrchen liegen, außerdem ein Pflaster, Watte und eine Sprühflasche. Ich spüre, wie eine Schweißperle unter meinem Anzug meine Wirbelsäule hinab läuft.
Die Ärztin stellt sich mir nicht vor, sie gibt mir auch nicht die Hand. Sie setzt sich auf den Hocker und bedeutet mir mit einer Geste, auf der Liege Platz zu nehmen. Ich tue wie mir geheißen.
»Wie alt sind Sie, 4-19?« Sie nimmt ein Klemmbrett von der Kommode und zieht einen Stift aus der Brusttasche ihres weißen Kittels. Mir fällt auf, dass sie darunter keinen schwarzen Anzug trägt, sondern eine weiße Hose und ein weißes Shirt.
Es kommt mir seltsam vor, mit meiner Nummer angesprochen zu werden. »Ich bin vor zwei Monaten sechzehn Jahre alt geworden.«
Die Frau nickt und notiert sich etwas auf dem Zettel, der im Klemmbrett steckt. »Haben Sie ihren Ausweis dabei?«
»Ja, natürlich.« Ich öffne den Reißverschluss der Brusttasche meines Anzuges und ziehe die kleine Plastikkarte hervor, auf der meine Individuennummer und mein Fingerabdruck vermerkt sind. Ich halte der Dame den Ausweis hin, aber sie nimmt ihn nicht, sondern sieht nur flüchtig darauf und nickt. Ich stecke ihn wieder zurück in die Tasche.
»Was passiert heute mit mir?« Ich wundere mich über meine eigene dünne Stimme. Meine Wangen glühen.
Die Ärztin sieht mich an, aber ich kann keine Gefühle in ihrem Gesicht sehen. Mir läuft ein Schauder über den Rücken. Sie wirkt auf mich wie eine leblose Puppe.
»Nur ein paar einfache Tests. Die Bluttest sind am wichtigsten.«
»Werden dieses Jahr wieder neue Leute rekrutiert?«
Sie antwortet nicht, was mir das Gefühl beschert, eine dumme Frage gestellt zu haben. Beschämt senke ich den Kopf. Ich hatte eigentlich gehofft, irgendwie mit meiner Bildung und meinem Wissen punkten zu können, aber jetzt wird mir bewusst, wie kindisch dieser Wunsch gewesen war. Das scheint niemanden zu interessieren.
»Krempeln Sie den linken Ärmel bitte nach oben«, sagt die Ärztin und übergeht meine Frage.
Mit schwitzigen Händen komme ich ihrer Aufforderung nach. Sie schiebt ihre eigenen weißen Ärmel nach oben. Mein Blick fällt auf eine seltsame dunkle Zeichnung auf ihrem linken Arm. Es sieht aus wie ein Muster, schwarz und geheimnisvoll. Geschwungene Linien, kunstvoll ineinander geflochten, ziehen sich von ihrem Handgelenk aus hinauf bis zum Oberarm. So etwas habe ich nie zuvor gesehen. Weshalb malt sie sich an? Ich bin so fasziniert davon, dass ich kaum mitbekomme, wie sie die Nadel vom Tablett nimmt. Erst jetzt irrt mein Blick zurück auf ihre Finger. Sie schält die Nadel aus einer durchsichtigen Plastikverpackung. An ihrem Ende befindet sich eine Art Schraubadapter, ich nehme an, um die Röhrchen zu befestigen. Sie sprüht etwas von der kalten Flüssigkeit auf meine Armbeuge und bittet mich eine Faust zu machen. Ich kann kaum noch verbergen, wie sehr ich zittere.
Sie sticht die Nadel in meinen Arm. Das geht so schnell, dass ich mich wundere, dass es kaum weh tut. Sie befüllt alle drei Röhrchen mit Blut. Gebannt starre ich auf ihre Finger, während sie das tut. Ich habe in meinem Leben noch nicht viel Blut gesehen, nur mein eigenes, wenn ich meine unpässlichen Tage habe. In den Röhrchen schwappt es dunkelrot.
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