»Gerade habe ich einen merkwürdigen Anruf bekommen … «, begann er.
Kullmann schaute ihn fragend an.
»… es war eine ältere Männerstimme. Er sagte nur: ›Endlich hat es den richtigen Klos erwischt, der es verdient hat. Lange habe ich darauf gewartet.‹ Auf meine Frage, wer denn am Apparat sei, legte er auf.«
»Der lebenslustige und beliebte Herbert entpuppt sich mehr und mehr zu einem Monster“, stellte Kullmann nur fest.
Verwundert ging Hübner auf den Schreibtisch zu, als sein Blick auf die Akte Marita Volz fiel. Oben auf lag ein großes Foto von ihr, aus einer Zeit vor dem Verbrechen.
»Ist das Marita Volz, das Vergewaltigungsopfer?«
»Ja.«
»Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich kannte dieses Mädchen. Als das passierte, war ich noch bei der Bundeswehr«, schüttelte Hübner den Kopf. »Aber dass es diese Marita mal treffen würde, hatten wir uns damals schon fast denken können.«
»Was willst du damit sagen?«, hakte Kullmann sogleich erbost nach.
»Na, so wie die aussah. Da konnte kein Mann wegsehen.«
»Berechtigt gutes Aussehen zur Vergewaltigung?«
»Nein, aber die hat es doch darauf angelegt mit ihrem ewigen geheimnisvollen Mona-Lisa-Lächeln. Ich möchte nicht wissen, was die den Männern versprochen hatte.«
»So, und daraus kannst du schließen, dass Marita dieses Schicksal verdient hat. Weil sie hübsch war und dieses Lächeln hatte. Weißt du überhaupt, was Marita für ein Mensch war? Nein. Und warum nicht? Weil es dich nicht interessiert. Probleme sind dir zu kompliziert. Du machst jeden Fall einfach und klar. Welche Schicksale dahinterstecken, interessiert dich nicht.«
»Als Seelenklempner werden wir ja auch nicht bezahlt“, fauchte Hübner böse.
»Aber auch nicht dafür, unsere persönlichen Urteile und Eindrücke abzugeben, ohne zu wissen, was wirklich dahinter steckt. Deshalb müssen wir recherchieren, bevor wir etwas anrichten, was nicht wieder gut zu machen ist. Marita könnte noch leben, hätten sich nicht zu viele Menschen durch voreiliges Urteilen und oberflächliches Handeln diesen Fall zu einfach gemacht. Wenn man selbst nicht betroffen ist, ist es auch einfach.« Kullmann schnappte nach Luft, sein Gesicht war purpurrot und Schweiß stand auf seiner Stirn.
»Warum erregt dieser Fall dich denn so? Es liegt 15 Jahre zurück.«
»Weil ich die Ermittlungen geführt hatte und es nicht erreichen konnte, dass der Täter zur Verantwortung gezogen wurde. Deshalb.«
Eine kurze Pause trat ein.
Dann meinte Kullmann wieder ruhiger: »Ich möchte gerne, dass du Nachforschungen anstellst, ob es etwas über den Fall von Maritas Mutter gibt. Ich will wissen, wer der Polizist war, der damals im Verdacht stand.«
Auf Hübners ungläubigen Blick hin, klärte er diesen über den Unglücksfall der Mutter auf, was selbst Hübner mit Betroffenheit zur Kenntnis nahm. Daraufhin verschwand er wieder.
Langsam erhob Kullmann sich von seinem Platz und schritt hinüber in Ankes Büro, um sich noch Kaffee nachzuschenken. Als er das Zimmer betrat, sah er sie so beschäftigt über einigen alten Akten, dass sie sein Eintreten nicht bemerkte.
»Welche Akten lesen Sie da?«
Erschrocken fuhr sie auf. »Ach Sie sind es.« stieß sie aus. Sie berichtete, dass sie auf der Suche, nach dem Fall von Maritas Mutter sei, dass sie bisher aber noch keine Anhaltspunkte gefunden habe.
»Was interessiert Sie so an den Fall der Mutter?«, fragte Kullmann besorgt, weil er ahnte, dass sie den gleichen Verdacht hegte.
»Ich weiß, dass es kaum bei unserem aktuellen Fall weiterhelfen wird, aber die Vergangenheit hat mich zurzeit eingeholt. Ich kann mich nicht richtig von diesem Fall trennen«, lächelte sie schwach.
»Es ist schon ein anonymer Anruf gekommen, Herbert Klos habe den Tod verdient“, erwähnte Kullmann eher beiläufig, während der zur Kaffeemaschine schritt und sich nachschenkte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Ankes Reaktion.
»Vielleicht erinnern sich noch andere an diesen Vorfall, wenn sie den Namen Herbert Klos hören.«
»Sicher. Gibt es eigentlich eine Akte über den Fall Josef Klos, Herberts Vater? Der Fall wurde damals niemals aufgeklärt, deshalb interessiert er mich.«
»Ich kann ja mal nachsehen.« Anke stand auf und ging in Richtung Aktenaufbewahrung.
»Anke, Sie sind ein wunderbarer Mensch, bitte bleiben Sie immer so und passen Sie gut auf sich auf.« meinte Kullmann, als er ihr nachsah, wie sie auf die Aktenablage zuging. Verwundert über diese väterliche Sorge drehte sie sich um und schaute ihn fragend an. Kullmann lächelte sie an und verließ ohne weitere Worte ihr Zimmer.
*
In seinem Büro wartete Hübner bereits auf ihn.
»Ich habe zwar nichts über Maritas Mutter erfahren, aber dafür habe ich die Anschrift von Elvira Reinhardt. Das könnte uns vielleicht wieder in die Gegenwart zurückbringen.«
»Zum Glück gibt es da ja noch Anke“, murrte Kullmann, weil er ahnte, dass der junge Kollege ihr den Auftrag weitergab. Aufträge, die ihm keinen Erfolg verschaffen konnten, leitete er besonders gerne weiter. Sein Erfolg ging ihm über alles. Wie er solch ein Verhalten missbilligte, dachte Kullmann voller Ingrimm. Hübner war schließlich nicht mehr so jung, um immer noch dieses vorpubertäre Denken und Streben rechtfertigen zu können. In diesem Berufszweig auf der Erfolgsleiter empor zu klettern, war ein langer und schwieriger Weg. Geduld oder Beziehungen, das waren die einzigen Möglichkeiten, den Erfolg zu beschleunigen und Hübner besaß seines Wissens keins von beidem.
»Allerdings habe ich meine Gründe, wenn ich Anweisungen
gebe. Sogar ich tue nichts, ohne zu überlegen“, fügte er noch sarkastisch an.
»Norbert, ich verstehe dich nicht mehr. Warum sollen wir in einem Fall herumwühlen, der 15 Jahre zurückliegt und längst abgeschlossen ist. – Zumal mittlerweile Täter und Opfer tot sind. Es ist mir ein Rätsel, welche Überlegungen du in dieser Sache angestellt hast? Wir müssen weiterarbeiten, es leben noch viele Menschen. Und es wird auch noch viel passieren. Wir können nicht bei jedem Fall die Nerven verlieren und uns selbst für alles verantwortlich machen. Wir können nur versuchen, eine gute Arbeit zu leisten und somit ein wenig zu helfen. Mehr aber auch nicht.«
Das klang zwar vernünftig, musste sich Kullmann eingestehen, doch er kannte Hübner. In den 5 Jahren, die sie zusammenarbeiteten, hatte er ihn bestens kennengelernt. Hübner konnte sich auf jede Situation bestens einstellen. Er war wie ein Chamäleon, das immer seine Farbe der jeweiligen Umgebung anpassen konnte, wo es auch war. Dadurch hatte es den Vorteil nicht entdeckt zu werden. In Hübners Fall war es ähnlich, sein wahres Gesicht wurde niemals entdeckt.
»Willst du behaupten, dass ich keine gute Arbeit leiste, nur weil ich emotional veranlagt bin?«, hakte er gereizt nach.
Hübner schüttelte den Kopf und schaute schuldbewusst unter sich. Er spürte wohl, dass er mit seiner Tirade zu weit gegangen war.
»Gut. In gewisser Weise gebe ich dir sogar Recht«, gab Kullmann zu Hübners Erstaunen nach. Er hatte einfach kein Interesse daran, sich mit Hübner auseinanderzusetzen, da sie wohl kaum einer Meinung sein würden. Er musste Hübner einfach Zeit lassen, gewisse Dinge zu verstehen und er war sich sicher, dass dieser Zeitpunkt noch kommen würde.
»Also, was haben wir über Elvira Reinhardt?«, fragte er, um somit seine Bereitschaft, das Kriegsbeil wieder zu begraben, zu zeigen.
»Sie ist die einzige, die wir kennen, die Kontakt zu beiden Toten hatte. Am 14.6.1988 hatte sie schriftlich der Firma Schulz KG gekündigt, fristlos. War zwei Monate arbeitslos und fing dann bei der Firma Boh und Co an zu arbeiten. Das Seltsame daran ist, bei Schulz KG war sie führend in der Verkaufsabteilung und hatte eine große Verantwortung und bei der Firma Boh und Co, das ist eine Autovermietung, arbeitet sie nur als kleine Schreibkraft. Dieser freiwillige Schritt nach hinten ist mir suspekt«, berichtete Hübner.
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