Ernst-Günther Tietze - Zwischen den Feuern

Zur Jahreswende fuhr ich mit einer Gruppe von 10 Führern in den Bayerischen Wald. Frieder hatte dort im Sommer eine Hütte bei einem Einödhof entdeckt. Der Bus brachte uns nach Passau und wir fuhren mit der Bahn weiter nach Frauenberg. Von dort liefen wir im tiefen Schnee eine Stunde auf Skiern durch den schweigenden Wald. Mit dem Affen auf dem Rücken war das gar nicht so leicht, ebenso das Heranschaffen der Lebensmittel aus Neureichenau. In der Hütte gibt es einen großen Herd, auf dem wir kochten. Die Nachtwache wurde stündlich abgelöst und fütterte den Herd die ganze Nacht hindurch, damit wir nicht froren. Trotz der Kälte wuschen wir uns morgens im Bach. Am Tage lernten wir Ski laufen und fuhren vom benachbarten Dreisesselberg herab, jeden Tag ein Stück höher. Die Ruhe im Wald war himmlisch und immer wieder entdeckten wir Wildspuren im Schnee.

An einem Abend sprach ich mit den Jungen über Sexualität. Keiner hatte zu Hause Näheres über den Befruchtungsvorgang erfahren, die Älteren wussten schon etwas mehr, aber alle nur vom Hörensagen, meist von der Straße. Anhand des Buches „Von Mann zu Mann“ erläuterte ich den Jungen alle notwendigen Einzelheiten, auch in ihrem Körper, wovon sie außer Erektion und Masturbation kaum etwas wussten. Sie wagten kaum zu atmen, als sie die Abbildungen einer weiblichen Scham in allen Einzelheiten sahen und ich ihnen die Beschreibung des Begattungsaktes vorlas. So detailliert und trotzdem anständig hatten sie noch nie etwas darüber gehört. Auch über die Menstruation, die auch für mich neu war, und die Geburt wurde gut informiert. Zum Verhältnis gegenüber Mädchen sagte ich, sie sollten sie allmählich und behutsam kennen lernen, am besten in Geselligkeit zu mehreren. Die Älteren erlebten es ja schon bei unseren Tanzstunden und einige von ihnen haben schon eine lose Freundschaft, meist mit Mitschülerinnen. Eine enge Freundschaft in diesem Alter geht aber zu weit, denn wir sind zwar körperlich zeugungsfähig, aber seelisch noch lange nicht reif genug, unsere ganz natürliche Sehnsucht nach inniger Gemeinschaft mit einem Mädchen zu erfüllen. Auch die Gefahr, ungewollt ein Kind zu zeugen, besteht ja bei jedem Geschlechtsakt. Da bleibt uns nur die Selbstbefriedigung, die zwar in der CP als Sünde gegen das sechste Gebot gilt, die aber auf meine Frage alle praktizieren. Weil ich ja selbst weiß, dass es keinem von uns gelingt, diese wundervolle natürliche Lösung der körperlichen Spannung zu unterlassen und wir danach immer nur ein schlechtes Gewissen haben, verteufelte ich sie nicht, sondern empfahl ihnen nur, ihren Willen daran zu schulen.

Als in der Silvesternacht das Feuer aufloderte, dachte ich über das alte Jahr nach. Noch kein Jahr in meinem Leben war so aufregend gewesen, als ehrlicher Junge habe ich es begonnen und bin zu einem Stasispitzel geworden. Noch habe ich mir nichts vorzuwerfen und ich werde in dieser Funktion nie einen Menschen schädigen.

Nach dem Läuten der Glocken sprach ich über die Losung für das Neue Jahr: „Bekümmert euch nicht; denn die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ Dieses Wort ist ein großer Auftrag für uns alle, nicht sorgen, sondern durch das Vertrauen auf Gott stark sein. Dann falteten wir die Hände und baten um Schutz und Segen. „Lass mich steh’n mein Gott, wo die Stürme weh’n“, war das erste Lied, das wir im Neuen Jahr sangen.

Bei der Nachtwache kam mir dann ein Gedicht in den Sinn:

Über tief verschneite Hänge

steigt das neue Jahr ganz leise.

Jungen steh’n in stiller Runde;

Glocken singen ihre Weise.

Mitternacht – die Jungen denken

an das Jahr, das jetzt vorüber,

doch der Glocken helle Stimmen

zieh’n ins neue sie hinüber.

Drunten feiern laute Menschen,

scheinbar froh und doch gefangen.

Jungen denken an die Zukunft,

Neujahrsglocken leiser klangen.

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