»Du willst mir jetzt aber nicht erzählen …«, beginnt das Mädchen, als es von seiner Mutter unterbrochen wird.
»Cloe, einen Moment noch. Bei meiner Suche folgte ich der Anleitung aus dem Buch und konnte es zuerst selbst nicht glauben, als ich diese silberne Spur auf dem Weg nach Munegard sah. Diese Festungsanlage wurde vor über zweihundert Jahren von den Zauberern des Mondes, den Dubharan, erbaut. Ich hoffte, in ihrer Umgebung magische Wesen zu entdecken, die möglicherweise für ihre dunklen Zwecke missbraucht werden. Diese wollte ich dann für uns nutzen, musste aber erst einmal eines finden. Zuerst vermutete ich, die Spur könne von einem der Magier hinterlassen worden sein und wollte bereits an einer anderen Stelle weitersuchen. Dann fiel mir auf, dass sie kaum mehr als ein dünner Silberfaden war, so ähnlich wie ein einzelnes Feenhaar. Dies konnte nicht von einem der Dubharan stammen, falls die überhaupt eine Spur hinterlassen sollten. Jemand, der Magie beherrscht, ist nicht unbedingt ein magisches Wesen, oder? Das sagte ich mir jedenfalls und folgte der Spur, die von der Festungsanlage weglief. Sie führte mich bald in den Wald, der dort rechts und links des Weges, dunkel und drohend wächst. Mein Eindringen in den Wald scheuchte schon bald kleinere Tiere auf, die vor mir davonstürmten. Einige Vögel und sogar eine große Schleiereule waren darunter. Dort, wo die Eule fortflog, erblickte ich nur einen kurzen Teil der Spur. Sie führte von einem umgestürzten Baum ein Stück weg und dann wieder dorthin zurück. Sollte die Eule das magische Wesen, was immer es auch war, gefangen und gefressen haben? Gerade in dem Moment krabbelte diese Haselmaus unter dem Stamm hervor, blickte sich suchend um und richtete sich auf. Sie musste das magische Wesen sein, das die Spur hinterlassen hatte. Also öffnete ich diesen Spezialbeutel, der mit silbernen Fäden durchwirkt ist und stülpte ihn über das kleine Tier. Nun sag mir bitte, was du über die magischen Fähigkeiten einer Haselmaus weißt.«
Jetzt herrscht Stille. Die Frau wartet auf eine Antwort und das Mädchen sucht nach einer.
»Bist du sicher, dass diese Maus Magie beherrscht?«
»Ich habe die Spur deutlich gesehen. Sie kam eindeutig von ihr.«
»Ich kann dir leider nicht sagen, welche besonderen Kräfte Haselmäuse haben könnten. Ich schlage vor, du bringst sie sofort zurück und lässt sie dort frei, wo du sie gefangen hast.«
Finn versucht währenddessen aus dem Beutel, der immer noch geöffnet ist, herauszukommen. Jetzt erscheinen seine kleine Schnauze und dann der Kopf mit den blitzenden Knopfaugen. Seine Barthaare zittern vor Aufregung. Sollte er in wenigen Augenblicken frei sein? Doch er fällt in den Behälter zurück.
»Mutter! Schau dir nur an, was du dem kleinen Kerl zumutest!« Dem Elf in Mausgestalt ist zwar nichts passiert, doch er muss sich erst ausruhen, bevor er einen neuen Versuch starten will. Erstaunt blickt er nach oben, als es um ihn herum dunkler wird. Er sieht, wie eine Hand auf ihn zukommt. Sie wird größer und größer, kommt bedrohlich nahe. Gleich hat sie ihn erreicht. Wie kann er sich wehren? Soll er mit seinen spitzen Zähnen zubeißen? Das wird für die Frau oder das Mädchen eine gute Lehre sein, sich nicht derart … Jetzt stutzt Finn und vergisst zuzubeißen. Die Finger streichen ihm zuerst sanft über den Rücken und die Stimme Cloes fordert:
»Scht, scht. Habe keine Angst. Ich werde dir nichts tun.« Der Elf erstarrt, als sich die Finger, zwar vorsichtig, aber unaufhaltsam unter seinen kleinen Körper schieben. Hätte er doch besser zugeschnappt? Jetzt wird er langsam und behutsam aus dem Beutel gehoben. Das Mädchen schaut ihn besorgt an und streichelt sein Fell.
»Ich tue dir nichts. Und vor Juna, meiner Mom, musst du auch keine Angst haben. Sie ist eigentlich eine ganz Liebe!«
»Bist du denn von allen guten … Nein. Natürlich muss die kleine Maus keine Sorgen haben. Ich wollte … nun, ja. Das war vermutlich keine so gute Idee. Ich bringe dich sofort wieder zurück in deinen Wald«, wendet sie sich nun direkt an das kleine Tier. »Vielleicht wartet dort bereits eine Familie auf dich.«
Finn will sich verständlich machen, doch sein Gefiepe wird nicht verstanden. Also versucht er, einen gedanklichen Kontakt herzustellen. Er muss mehrere Anläufe unternehmen, während das Mädchen ihn immer noch vorsichtig auf einer Hand hält und mit einem Finger der anderen streichelt. Da er etwas ungeübt in der Anwendung von Magie ist und das Streicheln ihn immer wieder ablenkt, braucht er mehrere Versuche. Er weiß nicht, ob eine Verbindung zu dem Mädchen funktionieren könnte, das vielleicht nicht einmal über magische Fähigkeiten verfügt, darum denkt er angestrengt:
»Juna, bitte erschrick nicht. Ich bin keine Haselmaus, sondern ein Elf!« Es erfolgt keine Reaktion.
»Juna. Ich bin keine Maus.« Wieder nichts.
»JUNA!«
»Was ist? Wer ruft mich?« Da die Elfe das laut fragt, schaut Cloe sie erstaunt an.
»Ich habe NICHT gerufen. Stimmt etwas nicht?«
Etwas früher am gleichen Morgen. Cian wälzt sich unruhig im Bett. Seine Lippen bewegen sich, murmeln unhörbare Beschwörungen. Schwere Schweißtropfen perlen auf seiner Stirn. Lange, silbergraue Haare kleben ihm am Kopf. Mit einem nach Luft ringendem Atemzug richtet er sich ruckartig auf. Die Bettdecke verrutscht und lässt einen Blick auf die magere Gestalt in einem weißen, knielangen Nachthemd zu. Der alte Elf hockt zitternd auf dem Bett. Die Beine werden angewinkelt und die Bettdecke wieder hochgezogen, bis sie auch die Schultern bedeckt. Die hellblauen Augen irren noch einige Zeit im Raum umher. Der Traum war zu realistisch. Der Mann mit dem zerfurchten Gesicht fixiert den Eingang zum Zimmer. War dort soeben eine Bewegung? Kommt jetzt gleich sein Feind herein, um ihn nun, nach so langer Zeit, zu töten? Er ist für eine letzte Auseinandersetzung bereit. Wenn Cian das genau bedenkt, scheint ihm das eher unwahrscheinlich. Sein rasender Puls beruhigt sich. Er versucht, bewusst langsam zu atmen. Er ballt die Hände zu Fäusten, um die Panik, die ihn im Traum übermannte, zurück in die Erinnerung zu pressen. Jetzt sieht er sich erneut um, diesmal aber ruhig und forschend. Nein. Er ist allein. Der alte Elf bekommt in seinem Heim, im Osten des Landes, fast nie Besuch. Woher sollen Feinde daher wissen, wo sie ihn finden können? Sogar sein erbittertster Gegner Connor, der Oberste der Dubharan, ist nicht in der Lage, den Tarnzauber zu durchbrechen, wenn er denn hier nach ihm suchen würde.
Cian sitzt grübelnd auf dem Bett. Etwas an der Sequenz beunruhigt ihn. Es will ihm aber nicht einfallen was. Der Traum, der ihn in den vergangenen zwanzig Jahren immer mal wieder heimsuchte, seit … Nein, daran will er jetzt nicht denken. Diese Bilder tauchten in den letzten Wochen öfter auf. Er hat getestet, ob es mit dem Essen zusammenhängt. Er hat abends nichts mehr gegessen, so dass er Magendrücken ausschließt. Erfreut meinte er schon, die Ursache gefunden zu haben, bis er drei Nächte später die von ihm so gefürchtete Sequenz … Erneut driften seine Gedanken ab. Aber der Traum soeben war anders. Aber was war es nur?
Cian zuckt mit den Schultern. Es wird sicher nicht so wichtig sein oder ihm unvermittelt wieder einfallen. Er hat in der letzten Zeit immer öfter Alpträume, auf einen mehr wird es nicht ankommen. Er streckt seine Beine, dreht sich zur Seite und lässt sie über den Rand des Bettes hängen.
»Brr, ist das heute ungemütlich«, brummt er fröstelnd. »Incendere!« Die Holzscheite im Kamin, die er gestern vorsorglich aufgeschichtet hat, flammen auf. »Ich werde scheinbar langsam senil«, stellt er mit einem Grinsen fest. »Ich hätte abends besser ein dickeres Scheit auf die letzte Glut gelegt, dann wäre es jetzt nicht so ausgekühlt. Das ist eben der Nachteil, wenn man in einem alten Turm wohnt, selbst wenn es der berühmte »Giants Crown« ist, der einmal die letzte Zuflucht in der Königsburg des Ostens darstellte.«
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