»Hoffentlich funktioniert dieser«, wünschte der Elf voller Verzweiflung. »Anghofio!«
Mit pochendem Herzen schaute er in das Gesicht eines völlig verwunderten Jägers. Es drückte genau das aus, was Finn zu erreichen gehofft hatte. Die Katze wusste nicht mehr, wer oder was sie ist und warum sie vor diesem kleinen Wesen hockte. Wollte sie damit spielen? Ihre Schwanzspitze zuckte bereits wieder hin und her. Der Elf vermutete, dass der Zauber nur kurze Zeit wirken würde, also drehte er sich um und hastete weiter. Und richtig. Er hatte sich gerade in die Mauerritze gezwängt, als er ein empörtes Maunzen hinter sich vernahm. Er war glücklich entkommen und staunte nun, dass die Ritze in ein richtiges Gangsystem führte. Drinnen war es zwar dämmerig, trotzdem konnte der Elf erkennen, dass er sich sofort entscheiden musste. Sollte er sich nach links oder nach rechts wenden. Auf sein Glück vertrauend, das ihm gerade bei der Flucht vor der Katze geholfen hatte, entschied er sich für rechts. Er folgte dem unregelmäßigen Gang und traf bald auf andere Mäuse. Neugierig beschnupperten sie sich. Finn musste ihnen jedoch nicht ganz geheuer sein, da sie sich umdrehten und piepsend wegrannten. Er versuchte, ihnen zu folgen, wollte sie fragen, wie er das Gebäude am schnellsten verlassen könnte. Da sie sich hier bestens auskannten, verlor er sie aber schon bald aus den Augen. Vorwärtslaufen schien ihm besser, als umzukehren, also behielt er die eingeschlagene Richtung bei. Auch wenn er es zuerst nicht bemerkte, führte der Gang stetig abwärts. Hin und wieder zweigten Seitengänge ab, doch er folgte ihnen nicht. Irgendwann musste dieser Fluchtweg doch enden! Während seiner Suche nach einem Ausgang fragte er sich, warum er sich nicht in einen Vogel verwandelt hatte. In der Gestalt hätte er es zwar schwer gehabt, durch das enge Gitter des Fensters nach draußen zu entkommen, dafür wäre er aber nicht dem Angriff einer Katze ausgesetzt gewesen.
Nun ja, das stimmt auch nur, solange er sich in der Luft befindet, weiß Finn, dessen Gedanken sich wieder auf die Gegenwart konzentrieren. Ob die Eule immer noch auf ihn lauert? Vorsichtig schiebt er sich unter dem Baumstamm hervor. Hm. Die Dämmerung kündigt sich bereits an. Trotzdem entschließt er sich, noch etwas zu warten. Sobald er sich aus seinem Versteck hervorgearbeitet hat, will er versuchen, sich zurück zu wandeln. Er grübelt. Bisher hatte er noch nie eine Gestaltwandlung durchgeführt, also weiß er auch nicht sicher, ob ihm die Rückwandlung gelingen wird. Er erinnert sich, dass ihm seine Ausbilder davon abgeraten haben, neue Zaubersprüche in Abwesenheit eines Lehrers zu probieren. Er sieht seinen Ausbilder Cian, wie er mit erhobenem Zeigefinger, aber einem jungenhaften Grinsen im Gesicht, belehrend zu ihm spricht:
»Sollte bei einer Übung etwas schiefgehen, bin ich in der Lage, notfalls einzugreifen. Unfälle, etwa das Herbeizaubern von großen Rabenflügeln oder andere Missgeschicke, können so vermieden oder rückgängig gemacht werden.« Unwillkürlich muss der junge Elf bei dieser Erinnerung grinsen. Er mag Cian, der sogar für einen Elf sehr alt, aber innerlich jung geblieben ist. Natürlich war in seinem Gefängnis kein Zaubermeister anwesend gewesen, trotzdem funktionierte die Verwandlung.
Finns Gedanken schweifen erneut ab. Auf seiner Suche im Gangsystem der Mäuse kam er schließlich zu einem Ausgang. Dieser befand sich in einer Außenmauer aus Sandstein. Mittlerweile war es Tag geworden und Finn konnte sehen, wo er sich befand. Er blickte zwar aus einer ungewohnten Perspektive, erkannte aber trotzdem den Innenhof eines offenbar größeren Anwesens. Hier herrschte reges Treiben. Rauchschwaden wehten über den Platz und das Dröhnen war hier erschreckend laut. Finn meinte sogar, bei jedem Ton ein Zittern des Erdbodens zu spüren. Was bedeutete das nur? Er hockte verwirrt am Ausgang der Mauerritze, unschlüssig, wohin er sich wenden sollte. Menschen begrüßten sich, während sie geschäftig hierhin oder dorthin eilten. Einige trugen Waren oder schoben Karren vor sich her, die mit Nahrungsmitteln gefüllt waren. Finns Schnäuzchen schnupperte begehrlich, wobei die feinen Barthaare vor Erregung zitterten. Seine schwarzen Knopfaugen erfassten schon bald ein Brötchen, das unbemerkt zu Boden gefallen war. Noch bevor er sich dessen bewusst wurde, huschte er dorthin und schnüffelte behaglich an dem frischen Gebäck.
»Endlich etwas zu essen!«, dachte er mit knurrendem Magen.
»Igitt, eine Maus«, quiekte in diesem Augenblick eine schrille Frauenstimme. Im nächsten Moment sauste ein Besen mit langen Borsten und sofort danach ein schwerer Stock auf das Steinpflaster, ihn jeweils um Haaresbreite verfehlend. Erschrocken machte die kleine Haselmaus einen Satz zur Seite. Sie zögerte nur kurz. Sollte sie dem Hungergefühl nachgeben, vielleicht einmal kräftig zubeißen oder sich in Sicherheit bringen? Die Entscheidung wurde ihr leicht gemacht, als sie jetzt das Fauchen einer offensichtlich getretenen Katze hörte.
»Du blödes Katzenvieh. Döst hier friedlich in der Sonne, während die Mäuse unsere Vorräte wegfressen. Tue etwas dagegen oder du landest vor der Tür.« Die scheltende Stimme gehörte zu einer Frau, die dem Tier einen energischen Tritt verpasst hatte. Finn wartete nicht, wie sich die Szene weiter entwickeln würde. Er suchte nach einem Fluchtweg und fand ihn. Er raste vorwärts und behielt ein schweres Eichentor fest im Blick. Es wurde schnell größer, während er darauf zuhielt. Gerade in dem Moment, als er darunter durchhuschte, miaute die aufgescheuchte Katze und versuchte, ihn noch mit einer Tatze unter dem Tor zu erwischen. Doch er hatte wiederum Glück.
»Warum habe ich mir nur eine Maus als neue Gestalt ausgesucht?«, waren erneut seine Gedanken, während er einem Weg folgte, der das große Anwesen hinter sich ließ. Als sich Finn einmal umdrehte, sah er eine gewaltige Burganlage hinter sich. Auch wenn er diese jetzt aus der Entfernung und aus der Perspektive einer Maus nicht wirklich erkennen konnte, gewahrte er ihre riesigen Ausmaße als dunklen Schatten. Wem sie gehörte und wo er sich befand, konnte er jedoch immer noch nicht sagen. Die Anlage war ihm völlig fremd und wurde schon bald von Büschen und Bäumen verborgen.
Da eine Haselmaus normalerweise tagsüber nicht aktiv ist, dauerte es auch nicht lange, bis Finn den unwiderstehlichen Drang verspürte, sich schlafen zu legen. Aber wo konnte er das gefahrlos tun. Sich vorher in seine natürliche Gestalt zu verwandeln, kam ihm vor lauter Müdigkeit nicht in den Sinn. Er schleppte sich vorwärts, bis er endlich ein kleines Gebüsch erreichte. Er huschte von der Straße, überquerte einen trockenen Graben und zwängte sich durch dichtes Gestrüpp. Er hangelte sich an dünnen Halmen nach oben und blickte direkt in einen größeren Wald, in dem sogar riesige Felsbrocken verstreut umherlagen. Plötzlich rutschte die kleine Maus ab. Der Elf hatte sich erstaunt eine Pfote vor die Schnauze gehalten und dadurch seinen sicheren Halt verloren. Er stürzte und landete in weichem Gras. Völlig entkräftet schloss er die Augen und fiel in tiefen Schlaf.
Als Finn endlich erwachte, war es völlig dunkel um ihn. Er hörte Geräusche der Nacht, die ihm seltsam fremd erschienen. Er hatte zuerst vergessen, welche Gestalt er in der vorigen Nacht angenommen hatte. Seine Nase schnupperte. Es roch eindeutig nach frischer Nahrung. Er wusste schon nicht mehr, wann er zuletzt etwas gegessen hatte. War das gestern oder davor? Ehe er sich anders besinnen konnte, folgte er seinen Sinnesorganen. Schon bald knabberte er an einer Beere, deren Saft erfrischend und süß schmeckte. Als sich Finn gestärkt hatte, kehrte die Erinnerung zurück. Doch wo er in diesen Wald eingedrungen war, wusste er schon nicht mehr. Dass es kein Gebüsch war, hatte er bereits festgestellt, als er sich einen ersten Überblick verschaffen wollte und abgestürzt war. Bei seiner Futtersuche, als er nur seiner Nase folgte, hatte er nicht auf den Weg geachtet. Schon bald meinte er, bereits seit Stunden zwischen großen Bäumen hindurchgelaufen oder großen Steinbrocken ausgewichen zu sein. Der junge Elf musste sich dringend orientieren. Ideal wäre sicher einer dieser glatten Granitbrocken. Obwohl das für eine echte Haselmaus sicher ein Leichtes gewesen wäre, rutschte er immer wieder ab. Finn folgte seinem Elfenverstand und schaffte es gerade deshalb nicht, obschon er es ein paarmal versuchte. Als er einen abgebrochenen Ast entdeckte, der weit emporragte und dadurch ebenfalls einen guten Überblick versprach, zögerte er nicht. Diesmal war es für ihn auch als ungeübte Haselmaus nicht besonders schwierig, hinaufzugelangen. Als er sich oben angekommen etwas aufrichten wollte, stürzte er dann doch ab.
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