Finns Gedanken kehren in die Gegenwart zurück. Die Sonne hat sich etwa handbreit über den Horizont erhoben, was er hier im Wald jedoch nur erahnen kann. Er merkt es daran, dass sein Körper bereits wieder Ruhe verlangt. Aber er gibt diesmal nicht nach. Wenn er der Schleiereule entkommen möchte, ist dazu jetzt die beste Gelegenheit. Seine Beine scharren und schieben den kleinen Körper unter dem Baumstamm hervor. Vorsichtig schnuppert er. Seine schwarzen Knopfaugen blicken unsicher umher. Sollte der lautlose Jäger der Nacht ihn doch noch fassen? Er hofft inbrünstig, dass es ihm gelingt, den Gestaltwandel zurückzunehmen, und murmelt schnell »Muto speciem«, während er sich fest seine eigene Gestalt vorstellt.
Gerade als Finn den Spruch beendet, wird es um ihn dunkel. Hat ihn jetzt doch noch die Schleiereule erwischt? Komisch ist aber, dass er keinerlei Schmerzen verspürt. Doch das könnte daran liegen, dass Eulen, anders als Katzen, ihre Beute schnell töten, dann würde er natürlich keine Empfindungen mehr haben.
»Aber warum kann ich dann noch denken?« Der junge Elf ist völlig verwirrt. Plötzlich scheint der Boden unter ihm zu schwanken. Dann hat er das Gefühl, als ob er sich nach oben bewegen würde. Da das keinesfalls aus eigener Kraft geschieht, wird ihn der Nachtjäger wohl gerade mit in die Luft nehmen. Vielleicht wird er zu einem Nest in einer Baumhöhle oder Scheune gebracht, um an junge Eulen verfüttert zu werden. Aber halt, jetzt scheint es von oben hell zu werden.
»Ja, wen haben wir denn da?«, ertönt eine seltsame, knarzige Stimme. Finn richtet seine Ohren dorthin und sein immer noch vorhandenes, kleines Schnäuzchen prüft zitternd die Luft. Sofort verharrt die Haselmaus in ihrer Bewegung.
»Wie kann das sein?« Der Elf ist verwirrt. »Ich habe doch den Gestaltwandlungszauber vollständig ausgesprochen. Sollte ich dabei etwas falsch gemacht haben? Hm. Es könnte natürlich sein, dass ich den Spruch als Haselmaus nicht richtig artikulieren konnte. Aber warum spricht mich die Eule so an, als wäre sie über meinen Anblick erstaunt?« Finn schüttelt den Kopf und blickt dorthin, woher das Licht kommt. Sollte er für einen kurzen Moment vor Schreck seine Sehkraft eingebüßt haben, als er von den tödlichen Krallen der Schleiereule ergriffen wurde, und jetzt kehrt sie zurück? Doch nun wird es erneut dunkel.
»Da habe ich endlich Erfolg gehabt! Wie stand es doch in dem alten Buch? »Am ersten bis fünften Morgen nach einem Blutmond kannst du mit Glück jedes magische Wesen sehen. Es hinterlässt eine Leuchtspur, die in der Dämmerung sichtbar ist. Am Mittag des fünften Tages wird die Spur vergehen.« Jetzt hat es bereits am zweiten Morgen geklappt, da kann ich heute Nacht ausschlafen. – Hm. Seltsam ist aber, dass es magische Haselmäuse gibt. Ich muss in meinen Büchern nachschauen. Vielleicht kann mir Cloe einen Tipp geben? Aber jetzt sollte ich hier schleunigst verschwinden, bevor einer der Zauberer des Mondes mich hier entdecken kann. Portaro!«
Während Finn noch versucht, sich aus dem Gehörten einen Sinn zusammenzureimen, hört er schon wieder die fremde Stimme, die er mittlerweile einer Frau zuordnet.
»Mein Schatz, ich bin zurück. Kannst du mal schnell kommen? Ich bin im Wohnzimmer.« Der junge Elf wundert sich, wo er jetzt wohl sein mag. Zumindest nicht im Nest einer Eule, die ihn gleich verfüttern will.
»Das ist schon einmal gut. Aber warum hat mich diese Frau gefangen und was will sie mit mir? Ist sie auf der Suche nach magischen Wesen, die sie für alchemistische Zwecke nutzen will?«
»Hallo Mom«, vernimmt er jetzt eine junge, angenehme Mädchenstimme. »Was gibt es denn so Wichtiges?«
»Jetzt schau dir das mal an.« Finn spürt, wie er hin und her geschaukelt wird, bevor es über ihm wieder hell wird. Er überlegt, welchen Zauber er anwenden soll und richtet sein Schnäuzchen nach oben. Eine seiner Pfoten ist bereits dorthin gerichtet, als er erstaunt innehält.
»Oh, wie niedlich. Eine kleine Haselmaus. Warum hast du die denn …? Ähem, warum hast du sie im Wald gefangen und hergebracht? Wir sollten sie wieder zurückbringen. Vermutlich ist sie starr vor Angst. Schau nur, wie ihre Knopfaugen nach oben blicken!«
»Ach, Quatsch. Das ist doch keine einfache Maus. Ich habe sie mitgenommen, weil sie magische Kräfte besitzt. Hörst du, sie beherrscht Magie.«
Der junge Elf weiß nicht, woher die Frau das wissen kann, doch er zögert noch, sie anzuwenden, weil ihm das Gesicht gefällt, das er erkennen kann.
Helle, große, blaue Augen mit kleinen, grauen Einsprenkelungen blicken ihn an. Auf und um die gerade Nase des Mädchens sind vereinzelt schwache Sommersprossen sichtbar. Ihr Alter zu schätzen fällt Finn schwer. Wenn sie eine Elfe ist, könnte sie etwa so alt wie er selbst sein. Als Menschenkind wäre sie vermutlich so um die 16 Jahre. Als sie jetzt den Kopf etwas zurückzieht und zur Seite blickt, kann er ihr mittelblondes, nicht ganz schulterlanges, glattes Haar sehen, das in der Mitte gescheitelt ist. Ihre Stirn ist sichtbar, da sie die vorderen Haare eines längeren Ponys hinter die Ohren gestrichen hat, von denen sich einzelne Strähnen lösen und ihr ins Gesicht fallen.
»Hör mir bitte erst zu, bevor wir entscheiden, was zu tun ist. Du weißt, dass ich es mir zur Aufgabe gemacht habe unseren Brüdern und Schwestern, also allen Elfen und ihren verbündeten Menschen, im Kampf gegen die bösen Zauberer des Mondes zu helfen. Bisher habe ich noch keinen Weg gefunden, was ich in meinem Alter noch beitragen könnte. Ich weiß, dass es überall in unserem Land magische Wesen gibt. Das sind nicht nur Menschen und wir Elfen, auch Kolkraben können zaubern. Bei einer Versammlung der Zauberer, zu der ich ausnahmsweise einmal gegangen bin, waren einige dieser großen, schwarzen Vögel anwesend. Es gibt aber noch andere magische Wesen, Faune, Kobolde, einen Feuervogel und … Nein, unterbrich mich nicht. Ich fantasiere keineswegs. Ich suche schon viele Jahre nach Verbündeten, die uns im Kampf gegen die Dubharan wirkungsvoll helfen können. Ich besitze einige Bücher aus der ehemaligen Bibliothek der Elfen im Süden, die darauf hindeuten, dass es unzählige derartige Kreaturen gibt. Den Hinweis, wo und wie man sie finden kann, hatte ich jedoch nicht. Am liebsten hätte ich einen der auch erwähnten kleinen Drachen erwischt. Das wäre natürlich kein richtiger Drache, sondern ein Drachengeist, sozusagen die Spur von einem Wesen, das einmal wirklich hier lebte. Diese Gedankenwesen sollen sehr mächtig, aber auch schwierig zu fangen sein. Ob sie überhaupt eine Leuchtspur hinterlassen, noch dazu in der Luft?« Juna unterbricht sich kurz und blickt grübelnd ihre Tochter an, aber ohne eine Antwort zu erwarten. »Mit viel Geduld kann so ein Drachengeist an einen Zauberer gewöhnt werden, man muss nur zuerst sein Vertrauen gewinnen, vermute ich. Dann ist er ein mächtiger Verbündeter! Die von mir in unserem Haus angelegte Büchersammlung ist zwar längst nicht so umfangreich, wie es die ehemalige Bibliothek in Deasgard gewesen ist, aber es befindet sich ein sehr altes und unscheinbares Buch darunter. Ich bekam es von einem Ausbilder vor vielen Jahren geschenkt, als ich die Lehrjahre bei ihm beendete. Das war kurz, nachdem meine Eltern zu Tode gekommen waren, weshalb ich es wohl einfach zu den anderen Büchern stellte. Viele Jahre hat es unbeachtet dort gestanden, bis es mir durch Zufall in die Hände fiel. Es war hinter die anderen gerutscht und nahm mich sofort gefangen, als mein Blick darauf ruhte. Darin habe ich über verschiedene Kreaturen gelesen und auch, wie man sie entdecken kann. Ich glaube fast, mein Ausbilder hat es mir nur aus dem Grund geschenkt, damit ich die magischen Kreaturen finden kann. Ich weiß noch, wie er mich dabei bedeutungsvoll anblickte. – Du kennst es, sein Titel lautet »Magische Wesen und ihre Macht«. Ich bin den Anweisungen, wie man sie entdecken kann, gestern und heute gefolgt.«
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