»Denen könnte man ein Stück Papier hinhalten, auf dem dein Bild klebt und darunter steht: ›Ihr seid Idioten‹, sie würden es als echt behandeln. Hauptsache, es ist ein schöner Stempel darauf.«
Horatio schnürte die Schuhe zu. Es war ein ungewohntes Gefühl, nicht mehr den Sand unter den Füßen zu spüren. Er fühlte sich im Grunde genommen nicht wohl in einem Anzug. Doch er fügte sich.
Er suchte in der Lobby nach einem Platz, von dem aus er zwar alles überblicken, aber selber nicht gesehen werden konnte. Er griff sich eine Zeitung, die dort auslag, und blätterte darin. Geduldig wartete er. Nach einer Weile kamen sie herein. Andrew O’Leary, Sarah und Professor Esubam, über und über mit Staub bedeckt. Sarah humpelte, Andrew machte ein Gesicht, als wenn man Salz in seinen Tee geschüttet hatte. Nur Esubam ging aufrecht und stolz. Seine Augen schienen zu glühen, als er zur Rezeption ging.
»Wir brauchen unsere Zimmerschlüssel«, herrschte er den Mann an der Rezeption an.
Dieser lächelte freundlich.
»Und auf welchen Namen, Sir?«
»Was ›auf welchen Namen‹? Wir sind erst gestern Morgen von hier weg. Haben Sie nichts im Kopf?«
»Entschuldigen Sie, Sir. Aber wir haben sehr viele Gäste, da kann ich mir leider nicht alle Namen merken.« Und mit einem abschätzigen Blick auf den Zustand der drei Personen, die vor ihm standen, ergänzte er: »Und nicht alle unsere Gäste sehen in der Regel so, nun, derangiert aus.«
Bevor Esubam noch etwas sagen konnte, mischte sich Sarah ein.
»Entschuldigen Sie bitte unseren Aufzug, wir haben ein leichtes Problem in der Wüste gehabt, aber wir haben drei Zimmer. Zwei auf den Namen O’Leary, eines auf Professor Esubam. Wenn Sie so freundlich wären, nachzusehen.«
»Sehr gerne, Mylady.«
Der Mann war wie ausgewechselt. Sarah hatte sich nur an die alte Maxime gehalten: ›Behandele jeden so, wie du gerne behandelt werden möchtest.‹
Im Nu reichte der Rezeptionist ihnen drei Schlüssel.
»Darf ich Ihnen etwas bringen lassen?«, fragte er höflich.
»Ja. Einen großen Krug mit Wasser. Und ich würde gerne ein Bad nehmen.«
Der Mann verbeugte sich.
»Ich werde alles vorbereiten lassen.« Er sah die beiden Männer an. »Wünschen die Herren auch ein Bad?«
Esubam winkte ab.
»Später. Ich habe erst etwas Dringendes zu erledigen.«
Sarah humpelte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Horatio sah ihr nach. Als auch Andrew und Esubam verschwunden waren, ging er zur Rezeption. Der Mann lächelte ihn an.
»Wir werden Esubam nicht mehr aus den Augen lassen.«
Horatio nickte.
»Sorg dafür, dass es der Frau an nichts fehlt.«
»Du kannst dich auf mich verlassen.«
Im warmen, schaumigen und nach Zitrone duftendem Wasser entspannte Sarah sich langsam. Gut die Hälfte des Kruges mit Wasser hatte sie bereits geleert, und die Benommenheit und Schwäche, die sie in der Wüste beinahe hätten zusammenbrechen lassen, vergingen langsam. Trotzdem bereitete der Gedanke, in den Wadi el Muluk zurückzukehren, ihr fast körperliches Unwohlsein. Es war sehr knapp gewesen. Hatte sie die Gefahr möglicherweise unterschätzt? In London war Sarah in den gefährlichsten Vierteln der Stadt unterwegs gewesen, bei Tag und bei Nacht, um den Leuten dort zu helfen, die sich keinen Arzt leisten konnten. Sie war stets in Gefahr gewesen, ausgeraubt, vergewaltigt oder gar ermordet zu werden. Ihr war nie etwas passiert – nicht zuletzt, weil sie Horatio dabei gehabt hatte, aber sie war ja auch diesmal nicht auf eigene Faust in die Wüste gezogen.
Dennoch war sie heute fast gestorben, und das nicht einmal durch die Hand eines Menschen. Das Land selbst war die größte Gefahr. Sarah schauderte bei der Vorstellung, sich dieser praktisch unkontrollierbaren Bedrohung noch einmal auszusetzen.
Als sie sich in London dazu entschlossen hatte, die Expedition zu begleiten, war es ihr vorgekommen wie ein großes Abenteuer, von dem sie hoffte, dass es endlich all die Trauer und Schwermut in ihrem Herzen auslöschen würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie an die Möglichkeit, dass es lebensgefährlich werden konnte, gar nicht gedacht. Es wäre ihr wahrscheinlich auch egal gewesen.
Das war jetzt anders! Sie wünschte sich den Tod nicht mehr. Es gab noch so viel zu erleben, so viel zu lernen!
Seufzend begann sie, sich den Sand und Staub aus den langen, roten Locken zu waschen. Einen Rückzieher machen konnte sie jetzt nicht mehr. Sie wollte sich auf gar keinen Fall vor András Esubam blamieren! Seine Meinung über sie war ihr enorm wichtig, obwohl sie sich nicht einmal sicher war, wieso. Es war ihr immer egal gewesen, was andere über sie dachten. Nicht so bei András! Er beeindruckte sie, mit seiner Erscheinung, seiner Bildung, seiner ganzen Art. Sarah bewunderte ihn und hatte das Gefühl, dass es ihm bei ihr ebenso ging.
Das Wasser wurde langsam kalt. Nur widerwillig stieg sie heraus und trocknete sich ab. Auch die Handtücher waren von feinster Qualität, wie alles in diesem Luxushotel. Wieder musste sie kurz an Henry Gordon, Horatios Vater, denken. Er hatte – zusätzlich zu den finanziellen Mitteln, die die Bank, in der er einen hohen Posten bekleidete, zur Verfügung gestellt hatte – aus seinem Privatvermögen einen beträchtlichen Betrag beigesteuert. Er wusste sicherlich nicht, auf welch großem Fuß sie hier lebten!
Seufzend zog Sarah ein leichtes Kleid über. Ihre Haare ließ sie lang und offen, damit sie besser trocknen konnten, und ging gedankenverloren ans Fenster, um in den Garten hinunterschauen zu können. Vielleicht hatte sie ja Glück, und Esubam fand keine neue Expeditionsgruppe, um noch einmal in den Wadi el Muluk zu ziehen.
Der Anblick des wundervollen Gartens lenkte Sarah einen Moment lang von ihren Sorgen ab. Die Wege, Bäume, Büsche und Beete waren so ästhetisch und strategisch geschickt platziert, dass es dort aussah wie in einem Wunderland. Künstlich geschaffene Bäche plätscherten dahin, und sie entdeckte immer wieder Vögel, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte.
Und dann sah sie den Mann. Er stand halb hinter einer Palme verborgen und schien zu ihr hinaufzuschauen. Wurden sie etwa auch hier schon bespitzelt?
»HE, HALLO, WAS WOLLEN SIE?«
Empört lehnte sich Sarah aus dem Fenster und ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihn gesehen hatte. Eine Sekunde später bereute sie diese Entscheidung schon wieder, denn mit einer schnellen Bewegung zog der Mann sich zurück und ging eilig davon. Sarah erstarrte. Die Art, wie er sich bewegte …
Sie schloss nicht einmal die Tür ihres Zimmers hinter sich, so sehr beeilte sie sich, in den Garten hinauszurennen. Auf dem Weg brachte sie, wenig damenhaft, zwei Dienstboten des Hotels zu Fall, die ihr nicht mehr schnell genug ausweichen konnten.
Dann stand sie in der Grünanlage, genau dort, wo sich eben der Mann noch versteckt hatte. Sie sah sich hektisch um.
»HORATIO!«
Der Mann tauchte nicht wieder auf.
Horatio fluchte. Das wäre fast ins Auge gegangen. Sie hatte ihn tatsächlich gesehen. Und, was noch schlimmer war, sie hatte seinen Namen gerufen. Aus irgendeinem Grund schien sie ihn erkannt zu haben. Doch er konnte jetzt nicht darüber nachdenken. Er musste aufpassen, dass dies nicht noch einmal geschah.
Er war in sein Zimmer geeilt und hatte sich auf das Bett geworfen. Er hatte gehofft, dass seine Liebe mit der Zeit erkalten oder sogar verlöschen würde. Aber genau das Gegenteil war der Fall.
Horatio starrte an die Decke, dachte an die Nächte mit Sarah. Aber er riss sich zusammen. Schnell zog er sich um, warf sich einen langen Umhang über und verließ das Hotel durch einen Seiteneingang. Sein Ziel war eines der ärmeren Viertel Luxors.
Dort angekommen ging er in einen kleinen Laden. Der Besitzer, ein dicklicher Ägypter Namens Abi-Yussef, besaß angeblich die umfangreichste Sammlung von Karten, auf denen die Lage der Gräber der Pharaonen verzeichnet sein sollte. Wenn Esubam also Material brauchte, würde er mit Sicherheit hierher kommen.
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