Am Abend wurde es früh dunkel. Die Verlobungsfeier sollte erst, wie er im Gasthaus erfahren hatte, in ein paar Stunden anfangen, und bis mitten in die Nacht andauern. Timono saß in seinem Zimmer und dachte an Joanna. Er wollte gerne wissen, ob sie den Brief schon gelesen hatte. Plötzlich bekam er eine Vision. Er sah Joanna im Schlosspark an dem Teich stehen und auf ihn warten. Erstaunt über seine Fähigkeit wusste er zunächst gar nicht, was er machen sollte, aber dann zog er seine Schuhe an und ging aus seinem Zimmer heraus und machte sich auf den Weg zu dem Schlossteich.
Dort angekommen sah er die Prinzessin wie in seiner Vision am Teich stehen. Sie ging aufgeregt hin und her. Timono lief auf sie zu und verneigte sich vor ihr. Joanna sah ihm traurig in seine Augen und sagte: „Es tut mir leid. Ihr habt mir einen sehr schönen, aber auch sehr traurigen Brief geschrieben. Ich mag euch wirklich sehr, denn ihr seid ein netter Mann und ich freue mich sehr, dass unsere Pferde bei euch in guten Händen sind. Die traurige Stelle war die, dass ihr fortgehen werdet, wenn ich eure Liebe nicht erwidere.“ Zuerst wusste Timono nicht, was er sagen sollte, deshalb sprach er kein Wort. Joanna ging einige Schritte weiter und erklärte schließlich: „Der Prinz, den ich heiraten werde, ist zwar viel älter als ich, aber dafür ist er liebevoll und wird mich behüten und beschützen.“ Da konnte er nicht mehr seinen Mund halten. Er fragte etwas wütend: „Bin ich denn nicht liebevoll, oder kann ich euch nicht behüten, oder beschützen?“ Seufzend antwortete Joanna ihm: „Darum geht es doch nicht. Wenn ich die Wahl hätte, dann würde ich mich vielleicht anders entscheiden, aber das kann ich nicht. Ich bin eine Prinzessin und ich muss einen Prinzen heiraten. Und dieser Prinz ist wirklich sehr nett und lieb zu mir. Ich kann nicht einfach fortgehen, so wie ihr es vorhabt. Ich muss die Entscheidung meines Vaters akzeptieren und ich werde deshalb den Prinzen heiraten.“ Mit einem Kloß in seinem Hals ging Timono einige Schritte weiter weg von Joanna und sagte mit zittriger Stimme: „Dann werdet ihr mich nie wieder sehen, denn ich kann nicht in eurer Nähe sein, um meine Liebe zu euch zu vergessen.“ Traurig ging er auf Joanna zu. Leise fragte er sie: „Darf ich euch noch um eine Sache bitten?“ Nickend stimmte die Prinzessin zu. Mit seinem ganzen Mut fragte Timono: „Darf ich euch um einen ersten und letzten Kuss bitten?“ Lächelnd nickte die Prinzessin und hielt ihm ihre Hand entgegen, doch er wollte einen richtigen Kuss. Schnell nahm er sie in seine Arme und gab ihr einen langen Kuss auf ihren schönen roten Mund. Ganz überrascht schaute sie Timono hinterher, der ihr kurz darauf den Rücken zudrehte und davonging.
Noch in der gleichen Nacht packte Timono seine Sachen zusammen, und meinte zu seinem Onkel: „Ich kann nicht länger hierbleiben. Ich will kein Stallbursche mehr sein.“ Etwas traurig sah der Onkel ihn an und fragte vorsichtig: „Und wohin willst du gehen, mein Junge?“ Mit gesenktem Blick antwortete Timono ihm, als er die letzten Klamotten in seine Tasche packte: „Ich habe noch keine Ahnung. Ich gehe dahin, wo der Wind mich hintreibt. Ich kann nur nicht mehr hierbleiben.“ Dann machte er die Tasche zu und schaute seinem Onkel in die Augen. Kurz darauf umarmte er ihn liebevoll und meinte: „Ich wollte doch schon immer mal etwas mehr von der Welt sehen. Und jetzt ist es Zeit dazu. Ich kann hier nicht länger bleiben.“ Mit einer schwenkenden Bewegung warf er die Tasche über seine Schulter und bat seinen Onkel: „Sag meiner Tante, dass ich sie sehr lieb habe. Ich werde ihr auch schreiben, wenn ich mein Ziel erreicht habe.“
Mit einer Träne in den Augen sah der Onkel seinen einzigem Neffen und überhaupt einzigem Kind nach und konnte ihn nicht aufhalten. Er wusste, dass es bestimmt das Beste für Timono sein würde, wenn er andere Menschen kennenlernt und andere Berufe erlernen kann. Darum ließ er ihn ziehen.
Am nächsten Morgen folgte Timono der Sonne. Sie stand in prächtigen roten Farben am Morgenhimmel. Die Blätter und Wiesen um ihn herum trugen winzige Tautropfen auf ihrem saftigen Grün. Die Luft war noch frisch und etwas kühl. Der Wind wehte um Timonos Nase und er roch darin die Seeluft. Da kam ihm die Idee, dass er auf einem Schiff als Seejunge anheuern könnte. Stark genug, um die Arbeit zu verrichten, war er auf jeden Fall. Also wollte er sein Glück auf hoher See suchen.
Als Timono an dem riesigen Ozean stand und auf die Schiffe blickte, die mit den Wellen hoch und runter schaukelten, dachte er an seine Eltern, die damals auf See ums Leben kamen. Aber dann fasste er sich ans Herz und sagte zu sich selbst, dass er damals nicht in diesen tödlichen Sturm geraten war, und es bis heute auch nicht vorhatte, in so einen Sturm zu geraten. Voll und ganz verließ er sich auf sein Glück und ging zu einem Schiff seiner Wahl.
Der Zufall ließ ihn auf ein schönes Segelschiff zugehen. Ein Zweimaster mit 2 Oberdecks. Als Galionsfigur hatte es eine weiße Möwe, die aussah, als wollte sie mit dem Schiff in die Lüfte fliegen. Offenbar war es ein Handelsschiff, denn es hatte keine Kanonen an Bord. Als Timono weiter um das Schiff ging, sah er schon einige Männer der Mannschaft an Deck stehen. Mit gemischten Gefühlen ging er an Bord des Schiffes. Dort fragte er einige Matrosen, ob er eine Arbeit auf diesem Schiff bekommen könnte. Einer der Männer mit einem Drei-Tage-Bart und einer Narbe im Gesicht erhob sich aus der Menge und nickte. Dann winkte er mit der Hand als Zeichen, dass Timono ihm folgen sollte. Zusammen gingen sie unter Deck zu der Kabine des Kapitäns.
Nachdem der fremde Mann die Türe zu der Kabine aufmachte, deutete er mit ein paar Zeichen auf Timono und erklärte ihm etwas in Zeichensprache. Der Kapitän erhob sich von seinem Stuhl und nickte mit dem Kopf. Kurz darauf ging der Mann mit dem Drei-Tage-Bart und der Narbe im Gesicht wieder fort. Timono sah ihm fragend hinterher. Gut gelaunt erklärte der Kapitän: „Das ist Raphael, mein bester Mann. Leider kann er nicht sprechen, daher muss er sich mit Zeichensprache verständigen.“ Erstaunt sah Timono den Kapitän an. Dieser war eine stattliche Persönlichkeit. Er war groß, kräftig, sah intelligent aus und hatte einen schwarzen kurzen Bart im Gesicht. Beeindruckt von diesem Mann sagte er etwas leise: „Mein Name ist Timono und ich möchte gerne einige Zeit auf dem Schiff hier arbeiten.“ Lachend fragte der Kapitän: „Kannst du auch etwas lauter sprechen?“ Sofort plusterte Timono sich auf und antwortete lauter: „Aber sicher kann ich auch laut sprechen.“ Mit einem Lächeln auf seinen Lippen, die halb unter dem Bart verschwanden, meinte der Kapitän: „Mein Name ist Ogly der Seefahrer. Meine frühere Mannschaft hat mich damals so getauft.“
Kurz darauf kam Kapitän Ogly hinter seinem Tisch hervor und ging um Timono herum. Dann meinte er nachdenklich zu ihm: „So! Du willst also mit uns zur See fahren. Das finde ich gut. Ich muss mir nur noch einfallen lassen, als was ich dich am besten brauchen könnte.“ Mit einem Fingerzeig meldete sich Timono und sagte zu ihm: „Ich kann kochen und putzen. Aber ich bin bereit auch noch andere Arbeit zu lernen.“ „Deine Einstellung gefällt mir“, sagte Ogly lachend und ging aus seiner Kabine heraus. Timono folgte ihm wortlos. Raphael kam ihnen entgegen und machte dem Kapitän Platz, damit er an ihm vorbeikam. Ogly sagte zu Raphael: „Das ist Timono unser neuer Mann. Du wirst dich ab jetzt um ihn kümmern. Zeige ihm das Schiff und gib ihm für den Anfang eine gute Arbeit.“ An Timono gewandt meinte er: „Willkommen auf der Seemöwe!“ Raphael nickte und führte Timono zunächst in die Kombüse. Das Schiff war nicht sehr groß. Es gab nur die Kombüse, einen Speiseraum für die Mannschaft, einen Schlafraum für alle, einen Frachtraum und natürlich die Kapitänskajüte.
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