Jana Gamper / Britta Hövelbrinks / Julia Schlauch (Hrsg.)
Lockdown, Homeschooling und Social Distancing: Der Zweitspracherwerb unter akut veränderten Bedingungen der COVID-19-Pandemie
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Umschlagabbildung: E-Learning von zu Hause aus. istockphoto, Stock-ID: 1220111612, da-kuk
Publiziert mit Unterstützung des Open Access Publikationsfonds der Justus-Liebig-Universität Gießen und des Zentrums für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Jana Gamper
ORCID: 0000-0001-6268-4880
Institut für Germanistik
Justus-Liebig-Liebig Universität
Gießen, Deutschland
Britta Hövelbrinks
ORCID: 0000-0002-8210-887X
Institut für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und Interkulturelle Studien
Friedrich-Schiller-Universität
Jena, Deutschland
Julia Schlauch
ORCID: 0000-0003-1433-5429
Institut für Germanistik
Justus-Liebig-Liebig Universität
Gießen, Deutschland
DOI: https://doi.org/10.24053/9783823394945
© 2021 · Vorname Nachname /Vorname Nachname /…
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Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG
Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen
Internet: www.narr.de
eMail: info@narr.de
Satz: pagina GmbH, Tübingen
ISBN 978-3-8233-9494-5 (Print)
ISBN 978-3-8233-0295-7 (ePub)
Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Zweitspracherwerbs unter Pandemiebedingungen: Eine Einführung in den Band
Jana Gamper/Britta Hövelbrinks/Julia Schlauch
Nachdem spätestens im März 2020 die COVID-19-Pandemie Deutschland erreicht hat, wurde schnell klar, dass die Pandemie nicht bloß eine medizinische Krise ist. Bereits nach wenigen Wochen und Monaten wurden Metaphern wie ‚Corona als Brennglas‘1oder gar ‚Corona als Brandbeschleuniger‘2 bemüht, die der allgegenwärtigen Wahrnehmung Ausdruck verliehen, dass die Pandemie Missstände unterschiedlichster Art gemeinhin sichtbar macht. Besonders offenbar wurden diese Missstände im Bereich der Bildung, allen voran des Lernorts Schule. Kaum etwas wurde öffentlich so intensiv und kontrovers diskutiert wie die Frage, ob und wann auch Schulen in den Lockdown gehen sollten. Daraus resultierten zahlreiche Fragen nach dem richtigen Umgang mit Schüler:innen und Lehrkräften in der Pandemie, nach Digitalisierungsstrategien für Schulen und den Folgen des Distanzlernens für Familien. Im Verlauf der Pandemie und besonders mit Blick auf die Diskussion bezüglich der pandemiebedingten Schulschließungen wiesen Expert:innen schon früh darauf hin, dass nicht alle Lerner:innen gleichermaßen von den Auswirkungen der Schulschließung betroffen seien. Besonders sozial benachteiligte und leistungsschwächere Schüler:innen drohe eine Bildungsbenachteiligung, weil grade diese Lerner:innen auf das gemeinsame Lernen in Präsenz angewiesen seien.3
Obwohl bildungspolitische Entscheidungen solche Mahnungen nach besonderen Lernbedarfen teils berücksichtigten und in entsprechende Notbetreuungsregelungen überführten, blieb eine Gruppe mit ebenso besonderen, aber anders gelagerten Lernbedarfen bis heute fast unsichtbar: neu zugewanderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die noch am Anfang ihres Deutscherwerbs stehen und deshalb in außerordentlich hohem Maße auf soziales Miteinander, das die Voraussetzung für jegliches sprachliches Lernen darstellt, angewiesen sind. Während die Pandemie Forschende, Lehrende, weitere bildungspolitisch verantwortliche Akteur:innen und auch Eltern auf gesellschaftliche und darunter besonders bildungspolitische Missstände aufmerksam macht, bleibt die pandemiebedingte Situation für Neuzugewanderte während der gesamten Pandemie in der Öffentlichkeit nahezu unsichtbar (vgl. auch Rude 2020). Bis auf O-Töne ‚aus der Praxis‘, die Einblicke in die teils dramatische Lage, aber auch in individuelle, innovative Lösungen geben, erfahren die Bedürfnisse und Bedarfe Zugewanderter weder im öffentlichen Diskurs noch in der Forschung die notwendige Aufmerksamkeit, die die Thematik Zuwanderung und Bildung aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive erfordern würde.
Aus dieser Beobachtung heraus speist sich die Motivation für den vorliegenden Sammelband. Er verfolgt das Ziel, eine gesellschaftlich marginalisierte Gruppe in den Fokus zu rücken, die wahrscheinlich besonders unter den Folgen von Kontaktreduktionen, schulischem und außerschulischem Distanzlernen und das Angewiesensein auf individuelle Ressourcen gelitten hat. Die pandemiebedingten mittel- und langfristigen Folgen können sich für Neuzugewanderte besonders stark auswirken, grade weil für sie die benannten Einschränkungen in einen elementaren Sprachlernprozess eingreifen, der die Weichen für individuelle Bildungsbiographien stellt. Dass diese Lerner:innen auch im Kontext der Pandemie anhaltend nicht berücksichtigt werden, kann dabei massive gesellschaftliche Folgen haben, was Integrationsprozesse und -erfolge angeht.
Mit dieser Ausgangslage sollen an dieser Stelle im Sinne einer Bestandsaufnahme, die angesichts der sich rasant und dynamisch entwickelnden Forschung zu pandemiebedingten Folgen nur eine Momentaufnahme sein kann, Forschungserkenntnisse zu (positiven wie negativen) Auswirkungen pandemiebedingter Maßnahmen im Bereich des Lehrens und Lernens zusammengeführt werden. Aus den bisherigen Befunden sollen erste Annahmen zur spezifischen Pandemiesituation für Neuzugewanderte formuliert werden, die es dringend zu beforschen gilt. Dazu soll im Folgenden in einem ersten Schritt die Lerngruppe näher bestimmt und eingegrenzt werden.
1 Zugewanderte im deutschen Bildungssystem
Massumi und von Dewitz definieren Neuzugewanderte als „Kinder und Jugendliche […], die im schulpflichtigen Alter (sechs Jahre oder älter) nach Deutschland migrieren und zu diesem Zeitpunkt über keine oder nur geringe Deutschkenntnisse verfügen“, wobei Deutschkenntnisse dann als „nur gering“ gelten, wenn sie „nicht als ausreichend angesehen werden, um erfolgreich am Unterricht in einer Regelklasse an einer deutschen Schule teilzunehmen“ (Massumi/von Dewitz 2015: 13). Der Begriff ist also ursprünglich auf das schulische Sprachlernen bezogen und stellt heraus, dass Partizipation an einem (in diesem Fall schulischen) Regelsystem denjenigen vorbehalten zu sein scheint, deren Deutschkenntnisse als ausreichend eingestuft werden. Dabei ist nicht klar definiert, was im Einzelfall ausreichend bedeutet. Ebenso unklar ist, wer darüber entscheidet, wann Deutschkenntnisse ausreichen und wie überprüft wird, ob sie ausreichen. Trotz dieser substantiellen Lücken wird Sprache, oder genauer sprachliche Fähigkeiten im Deutschen, zur Voraussetzung für soziale Teilhabe gemacht. Dies ist keinesfalls auf die von Massumi und von Dewitz zurückgehende Begriffsdefinition zurückzuführen, vielmehr bildet diese eine gängige Praxis ab: Kompetenzen in der Mehrheitssprache werden bei Zugewanderten zur notwendigen Voraussetzung für Partizipation im weiteren Sinne, d.h. sowohl im Kontext von Bildungsinstitutionen als auch gesamtgesellschaftlich, gemacht. Im Kontext von Integrationsmaßnahmen kommt der Ausbildung ‚ausreichender‘ Sprachkenntnisse im Deutschen somit eine Schlüsselfunktion zu.
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