1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 Dedra war nicht alt genug, um sich an die Zeiten des religiösen Umbruchs vor zwei Jahrhunderten zu erinnern. Sie gehörte jedoch zu den wenigen Menschen, die noch wussten, wie direkter Sonnenschein aussah und sich anfühlte. Sie hatte eine ganze Weile vor dem Grau gelebt, das vor sechzig Jahren über die Welt gekommen war. Auch wenn diese Erinnerungen zunehmend verschwommen und unzuverlässig wurden. Das Phänomen, das alten Menschen ihre Jugenderinnerungen lebhaft erhalten blieben, während ihr Kurzzeitgedächtnis immer schlechter wurde, traf auf sie nicht zu. Die Vergangenheit schien für sie mit jedem weiteren Winter tiefer in einem Nebel zu verschwinden. Im Gegenzug wurde sie von der Vergesslichkeit verschont, die so viele Alte in den letzten Jahren befiel. Ihr Geist war klar und ihr Gedächtnis so gut wie eh und je. Eine kleine Entschädigung der Götter, die es nicht gab, dafür, dass die Arthritis langsam aber sicher ihre Gelenke auffraß, vermutete Dedra. Sie hatte vor dem Grau lange Zeit als Kräuterfrau gearbeitet, ohne als Hexe behelligt zu werden. Durchaus auch in größeren Städten. Das gelang, damals wie heute, vielen echten Hexen. Verbrannt wurden für gewöhnlich Frauen, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren.
Bevor sich der Himmel und damit die Welt verändert hatte, war Dedra bereits recht alt gewesen. Selbst in ihrer Jugend hätte sie wohl kaum ein Mann als hübsch bezeichnet. Aber sie war eine Hexe, und als solche hatte man Möglichkeiten. Als offensichtlich wurde, dass das Grau nicht auf ebenso plötzliche und mysteriöse Weise verschwinden würde, wie es gekommen war, begannen die Unruhen. Dedra beschloss damals, dass es an der Zeit war, sich einen ruhigen Platz zu suchen, um dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Sie reiste eine Weile durch die dunkel gewordene Welt, wobei sie mit Glück, Erfahrung und Glamour die Wirren der ersten Jahre des Hungers und Blutvergießens überlebte.
Schließlich führte sie ihr Weg nach Flusswalde. Die vorherige Kräuterfrau, im Gegensatz zu ihr in der Tat nur eine einfache Kräuterkundige, war kurz zuvor gestorben. Sie war eine gute Heilerin gewesen, was es Dedra erleichtert hatte, das Vertrauen der Dorfbewohner zu gewinnen. Der meisten jedenfalls. Es waren einfache, aber für ihren Stand beinahe wohlhabende Leute, die hier lebten. Das Land war trotz des Grau noch fruchtbar, wenn auch der Überfluss alter Tage der Vergangenheit angehörte. Die Nähe zum Grenzland sowie der Fluss, an dessen Ufern das Dorf lag und dem es seinen Namen verdankte, trugen ihr Übriges zu dem hier herrschenden Wohlstand bei. Der Handel, der früher mit einigen Siedlungen aus dem Umland betrieben wurde, war freilich längst versiegt. Inzwischen wurde entweder nicht mehr genug Überschuss produziert um ihn als Handelsware anzubieten, oder es gab anderswo keine lohnende Bezahlung.
Dedra lies ihre Gedanken in die hinter ihr liegenden Jahrzehnte schweifen, während sie sich durch den Wald arbeitete. Ihr Stock, seit vielen Jahren ihr ständiger Begleiter, war hier kaum eine Hilfe. Sie merkte, dass sie sich dieser Tage immer öfter mit der stetig nebulöser werdenden Vergangenheit beschäftige. Aber was, zum Teufel, sollte es schon. Das war schließlich ein Anrecht der Alten.
Nach ihrer Ankunft in Flusswalde hatte Dedra geholfen, wo immer sie es vermocht hatte. Außerdem hatte sie nur das Nötigste für ihre Dienste verlangt und stets ein freundliches Wort für die gehabt, die zu ihr kamen. Natürlich gab es auch Menschen, die der alten Frau skeptisch gegenübergestanden. Sie hatte etwas Merkwürdiges, nicht Greifbares in Benehmen und Aussehen, das auf einige Leute abstoßend wirkte. Was die einen als die exzentrische Schrulligkeit einer ansonsten umgänglichen Greisin betrachteten, erschien anderen als unheimlich und befremdlich.
Diese misstrauischen Menschen gab es allerorts und sie stellten stets ein Problem dar, dessen man sich sorgfältig annehmen musste. Kirche und Inquisition mochten auf dem Land weit weg sein, doch eine Hexe war auch in den traditionellen Mythen durchweg als gefährliche und düstere Kreatur dargestellt worden. Im Grunde lief es immer wieder darauf hinaus, dass ein Verdacht gegen eine Frau schnell ausgesprochen war. Dass letztendlich niemand einen Furz um eine tote alte Vettel mehr oder weniger gab, war ebenfalls eine Tatsache.
Dedra war beständig in ihrer Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit, und da außer ihr kein Heiler verfügbar war, kamen auch die Misstrauischen und Feindseeligen schließlich zu ihr. Früher oder später wurde jeder krank, und wenn nicht, hatte man als Hexe Möglichkeiten, dafür zu sorgen. Auf diese Weise konnte sie das Problem langsam aber nachhaltig lösen.
Dedra wusste genau, welche der Dorfbewohner ihr misstrauten. Sie kannte bald jeden Mann, jede Frau und jedes Kind. Sie wusste, wer sich vor ihr ängstige, ebenso wie sie einzuschätzen vermochte, wer ihr regelrecht feindselig gegenüberstand. Die Ängstlichen ließen sich meist mit behutsamer Freundlichkeit, Können oder Glamour überzeugen. Bei einigen aber war jede Liebesmüh vergebens. Es gab immer ein paar dieser Sorte, wohin man auch kam. Deshalb wurden manche Menschen nach ihrer Behandlung gesund und andere starben kurz darauf. So war das nun einmal in der Welt. Krankheiten waren tückisch und oft unberechenbar, Kinder ertranken beim Spielen am Fluss oder brachen sich die Knochen, wenn sie von einem erkletterten Baum fielen. Es gab so vieles, was im dörflichen Alltag passieren mochte, und auch die beste Kräuterfrau konnte nicht überall sein und jedes Leben retten. Auf einen der starb kamen neun oder mehr, die durch Dedras Hilfe wieder gesund wurden. Die Dörfler schätzten sich glücklich, eine so fähige Heilerin zur Verfügung zu haben.
Etwa zwanzig Jahre nach ihrer Ankunft, sie lebte längst in der Hütte am Waldrand, gab es keine Menschen mehr in Flusswalde, die ihr feindselig gegenüberstanden. Diese Sorte war meist jung, zumindest aber am Ende kinderlos, verstorben. Ein Lächeln, das die uralte Ruine ihres Gesichtes in tausend Falten legte, zog sich über die Züge der Greisin. Es hielt sich jedoch nur kurz, bis eine frische, siedende Welle Schmerz von ihrem linken Knöchel aus ihr Bein hinauf floss, nachdem sie auf eine Wurzel getreten war.
Inzwischen behandelte sie die dritte Generation von Dorfbewohnern und war längst ein fester Bestandteil des Lebens in Flusswalde geworden. Schon die Großeltern waren zu ihr gegangen. Dass bereits diese die weise Frau vor fünfzig Jahren als die alte Dedra bezeichnet hatten, mochte vielleicht manch einem befremdlich erscheinen. Aber so war eben der Lauf der Dinge, einige Menschen starben jung, andere hielten sich länger. Davon abgesehen wollte sich niemand ausmalen, wie es sein würde, wenn die erfahrene Kräuterfrau nicht mehr da war. Schließlich kannte sie Medizin gegen unzählige Leiden und Gebrechen. Ob Magenverstimmung, gebrochene Knochen oder Fieber. Ob eine schwere Geburt anstand, oder Kinderkrankheiten umgingen, die alte Dedra wusste Rat. Und sie nahm noch immer kaum mehr als das Nötigste für ihre Dienste. Nicht wenige Menschen sahen in ihr den guten Geist des Dorfes. Sie mochte mit den Jahren etwas wunderlich werden, aber so waren alte Leute nun einmal.
Dedra sah an diesem frühen Herbstnachmittag tatsächlich ein wenig wie ein Geist aus, und wie ein erschöpfter dazu. Sie schleppte sich gerade schnaufend über den Boden des Waldrandes vor ihrer Hütte. Mit einem erleichterten Grunzen nahm sie die letzten paar Schritte zur hinteren Veranda in Angriff. Sie war eine Hexe, eine der wenigen echten, die es noch gab, aber sie war ebenso eine leidenschaftliche Kräuterfrau, und zwar eine hervorragende.
Alchemie und Kräuterkunde hatten ihr immer Freude bereitet, obgleich Menschen für sie nicht viel mehr waren als Nutztiere. Es war erheiternd, einem von ihnen einen Trank zu verabreichen, der ihn in Krämpfen verenden ließ. Es konnte jedoch auch durchaus befriedigend sein, sich um ihr Wohlergehen zu kümmern. Bei all dem war es für eine Hexe unabdingbar, über ein fundiertes Wissen in der Naturheilkunde zu verfügen, wenn sie längere Zeit an einem Ort leben und arbeiten wollte.
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