Sie hielt bei der Handvoll Eisschlehen inne, die fast am Boden des Korbes lagen. Die Pflanze wuchs erst seit wenigen Jahren in diesen Wäldern. Eigentlich gehörte sie in nördlichere Gefilde. Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Veränderungen durch das kältere Klima auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Grau noch nicht beendet waren. Wie es wohl heutzutage dort sein mochte, wo das Wetter früher bereits kalt und lebensfeindlich war, fragte sie sich beiläufig. Aber es waren inzwischen nicht mehr nur die Pflanzen, die ihre Aufmerksamkeit erregten.
Sie sah in letzter Zeit Tiere, die ihr ganz und gar nicht gefielen. Einige Nagetiere waren so selten, dass manche Arten völlig verschwunden zu sein schienen. Seit dem Herbst vorletzten Jahres hatte sie mehr Eichhörnchenkadaver gefunden als in den zehn Jahren davor zusammen. Besonders aber das Aussehen der Tiere beunruhigte sie zunehmend. Eichhörnchen waren eine feine Fleischbeigabe für ihre Suppen, außerdem liebte Grumpel sie. Daher genossen diese kleinen Tiere seit jeher ihre Aufmerksamkeit. Grumpel und sie hatten beide eine Vorliebe für einfaches Essen und waren nicht wählerisch. Wobei das heutzutage kaum noch jemand war, dafür hatte das Grau gesorgt. Nun war es aber eine Sache, ein schon etwas mürbes Eichhörnchen zu verspeisen. Wenn die vermeintliche Nahrungsergänzung Ohren und Finger hatte, die deutlich zu lang für seine Art waren und die Augen wirkten, als wären sie seitlich am Kopf nach unten gerutscht, sah das völlig anders aus. Sie wusste nicht, ob diese Missbildungen mit den vielen Kadavern zusammenhingen, die sie fand. Die meisten von ihnen schienen von anderen kleinen Tieren totgebissen worden zu sein. Aber natürlich konnte man eine Krankheit nie ausschließen. Seit einigen Monaten gab es jedenfalls nur noch sehr selten Eichhörnchen bei Dedra und Grumpel, und sie bevorzugte die mageren jungen Hühner aus dem Dorf.
Die Beeren der Eisschlehe hingegen stellten eine der erfreulichen Veränderungen dar. Leicht bitter und nussig im Geschmack, konnten sie im getrockneten Zustand rasch zu einem feinen Pulver gemahlen werden. Roh oder frisch zubereitet waren sie in einer Speise schmackhaft. Als dünner Tee aufgebrüht wirkten sie beruhigend auf die Nerven. Getrocknet und in Pulverform verstärkte sich diese Wirkung um ein Hundertfaches. Das führte dazu, dass aus einer Medizin ein tödliches Gift wurde. Wie so oft machte nur die Dosis den Unterschied aus. In einem Getränk oder einer Speise war das Pulver nahezu geschmacklos und hervorragend geeignet, Mensch oder Tier binnen weniger Minuten zu töten. Sekunden nach der Einnahme setzte eine tiefe Müdigkeit ein, der die Bewusstlosigkeit folgte. Kurz darauf erstarb die gelähmte Atmung und alles war vorbei.
Dedra seufze erneut und schaute auf das gleichmäßig atmende, zottige Bündel Fell in ihrem Schoß hinunter. Es war ein bitterer Gedanke, unter Umständen einen solchen Trunk für das Tier oder sich selbst bereiten zu müssen. Die Katze war ebenso ein alter Sack voll Knochen, wie sie einer war. Der Pelz eine stumpfe, struppige Entsprechung ihres eigenen eisgrauen, spinnwebenfeinen Haares. Vielleicht blieben ihnen ja noch der eine oder andere Sommer, dachte sie wehmütig. Zunächst einmal stand der Winter bevor.
Wenn sich auch Vieles geändert hatte, seit das Grau über die Welt gekommen war, der Winter machte seinem Namen nach wie vor alle Ehre. Er kam jetzt statt im frühen Dezember bereits im späten Oktober und blieb für gewöhnlich bis Mitte oder Ende April. Außerdem war er, wie jede andere Jahreszeit, ungleich kühler als zuvor. Aus dem Frühling war der Herbst geworden, aus dem Sommer der Frühling und aus dem Herbst der Winter. Der Winter selbst hatte sich in etwas Dunkleres und Kälteres verwandelt, als man bis dahin gekannt hatte.
Dedra schauderte, wenn sie an die Beschwerlichkeit des Weges von ihrer Hütte bis zum Dorf dachte, die ihr in den kommenden Monaten bevorstand. Ihre Knochen fühlten sich langsam aber sicher so alt und spröde an, wie sie waren. Die Schmerzen in den Morgenstunden und nach ihren Ausflügen wurden immer hartnäckiger und unerträglicher. Über das Blut, das sie inzwischen ständig im Abort fand, dachte sie nicht weiter nach. So etwas musste man verdrängen, oder man wurde verrückt. Ab und an überlegt sie, eine Hütte im Dorf zu beziehen. Willkommen war sie dort, das wusste sie wohl, aber stets verwarf sie den Gedanken wieder. Die Dorfbewohner waren nicht ihresgleichen. Die Bequemlichkeit und vermeintliche Sicherheit der Nähe zu den Menschen barg mehr Gefahren, als sie wert war. Außerdem konnte sie nach über einem halben Jahrhundert der Einsiedelei eine Gesellschaft, die nicht aus Grumpel bestand, kaum ertragen.
Es war besser hier zu bleiben, und das Beste aus der verbleibenden Zeit zu machen. Wenn es denn nicht mehr ging, wenn alles zu unerträglich wurde, hatte sie Möglichkeiten. Die hatte jede Kräuterkundige. Und erst recht jede Hexe. Sie schloss die Augen, sog den Waldgeruch tief in ihre alten Lungen, und lies eine klauenartige Hand sanft auf dem dürren aber warmen Körper von Grumpel ruhen.
Baldric
Für Baldric von Dunstan brachte dieser relativ milde September seinen ersten Herbst als Marschall des Templerordens. Der Orden des Lichtbringers war der eiserne, halbweltliche Arm der Kirche. Er diente als Verteidigung des Glaubens gegen Feinde sowohl von außerhalb, als auch von innerhalb des Reiches.
Baldrics Laufbahn hätte als beispielhaft bezeichnet werden können, wäre da nicht der eine dunkle Fleck gewesen, der seine Vergangenheit unauslöschlich beschmutzte. Besagter Makel war außerdem der Grund dafür, dass er seinen Titel in der Ostmark trug und nicht in Stennward, der Liegenschaft des Regenten selbst. Dieser ferne Teil des Reiches, die Königsmark, war sowohl der Sitz des großen Tempels des Lichtbringers als auch der des Ordenshauptquartieres. Gleichzeitig sorgte die weit zurückliegende Verfehlung dafür, dass sein kürzlich erworbener Rang der höchste war, den er je erreichen würde. Seine nicht unproblematische Herkunft hingegen spielte hier keine Rolle.
Er war ein Bastard aus dem mittleren Adel, was an sich keine allzu bedeutende Schande darstellte. Besonders förderlich war es in der aristokratischen Welt freilich auch nicht unbedingt. Hier, in der Gesellschaft des eisernen Armes der Kirche, verloren weltliche Wertigkeiten jedoch fast völlig ihre Bedeutung. Mit dem Ordensschwur ließ der Anwärter sein bisheriges Leben zurück. Zum Guten, wie zum Schlechten. Baldric, der mit zweiunddreißig Jahren einer der jüngsten Marschälle des Ordens war, ließ die Vergangenheit vor seinem inneren Auge Revue passieren, während er durch die Gänge von Moorwacht schritt. Er kam gerade vom Gebet und fühlte sich so entspannt, wie es nur selten der Fall war.
Er ging nicht direkt zu seiner Kammer, sondern schlug einen Weg ein, der ihn quer durch die kleine Ordensburg führte. Er bewegte sich gerne durch die Wehranlage, die er seit einigen Jahren seine Heimat nannte. Die Ernennung zum Marschall lag wenige Tage zurück, und er würde bald zu einer längeren Mission aufbrechen. Es war eines seiner größten Kommandos und das Erste in dem kürzlich erworbenen Amt. Es gab Zeiten, in denen es gut war, einen ruhigen Blick auf die Vergangenheit zu werfen, um sich für die Zukunft zu wappnen. Er ging bewusst langsam, nickte dem einen oder anderen Bruder im Vorbeigehen zum Gruß und dachte an seine Jugend.
Die wilden, unsicheren Jahre. Den frühen, nicht ganz freiwilligen Eintritt in den Dienst für den Lichtbringer, der nicht im Orden selbst, sondern im Schoß der Kirche begonnen hatte. Fast fünfundzwanzig Jahre war das inzwischen her. Bereits nach kurzer Zeit war deutlich geworden, dass der geistliche Teil der Kirche nicht der Ort war, an dem der junge Baldric sein Leben würde verbringen können. Zwar war er, am Hofe seines Vaters im wahren Glauben erzogen, willfährig den Lehren des Herrn gefolgt. Auch mit der Disziplin kam er für einen sonst so unsteten Jungen gut zurecht, nachdem einige ebenso empfindliche wie lehrreiche Bestrafungen erfolgt waren. Er begehrte nie gegen Vorgesetzte auf und nahm die Strafen für Vergehen, die fast immer aus seinem Jähzorn heraus entstanden, nie aus Aufsässigkeit, ohne zu murren hin.
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