Wer das, was die Ignoranten die dunkle Kunst nannten, öfter als unbedingt nötig gebrauchte, blieb nicht lange unentdeckt. Und dann waren immer rasch Leute mit Fackeln und Mistgabeln oder Hammer und Nägeln zur Stelle. Eben diese Kräuterheilkunde aber war in den Jahren seit dem Grau ständig schwieriger geworden. Durch die anhaltend kälteren Temperaturen und das Fehlen von direktem Sonnenlicht hatten sich Fauna und Flora verändert. Dabei schienen ihr die Veränderungen der Pflanzenwelt bis vor kurzem am gravierendsten zu sein. Vor den vielen Eichhörnchen und den Hirschen. In jedem Fall aber waren sie für ihre Arbeit problematischer. Sie hatte die neuen Umstände das eine um das andere Mal verflucht. Zum Glück war sie dank ihrer Kunst nicht ausschließlich auf die Natur angewiesen.
Einige Kräuter waren während der kühlen Jahrzehnte einfach nur selten geworden oder ausgestorben. Andere Pflanzen wiederum gab es zwar noch, doch verloren sie im Laufe der Zeit teilweise oder vollständig ihre Wirkung. So heilte Dedra seit fast dreißig Jahren eine Blasenentzündung nicht mehr mit Grelenwurz, wie es in diesem Teil der Welt üblich war. Sie verwendete die Pflanze nicht mehr, weil sie früher in den warmen Monaten von Mitte Juni bis Mitte August geblüht hatte. Nur wenn es in seiner Blüte geerntet wurde, entfaltete das Kraut seine Heilkraft. Nun gab es aber seit sechzig Jahren keine warmen Sommermonate mehr. Und damit natürlich auch kein wirksames Grelenwurz. Sie heilte die Blasenentzündungen trotzdem, obgleich ihre übernatürlichen heilerischen Fähigkeiten vergleichsweise bescheiden waren. Sie war jedoch eine Hexe, und als solche hatte man Möglichkeiten. Es gab schließlich genug Kraut, das so ähnlich aussah. Die Dorfbewohner kannten sich mit diesen Dingen ohnehin nicht aus. Den meisten war es auch egal, was sie nahmen, solange es nur half. In jedem Fall wäre es für eine halb so alte Frau wie Dedra heuer mühsam gewesen, dieser Arbeit nachzugehen. Ob Hexe oder nicht.
Sie erklomm die schmale Treppe zur Veranda mit kurzen, leisen Stoßseufzern, die sie im Takt ihrer Schritte ausstieß. Jede der drei Stufen war wie ein Messer in den Kniegelenken. Erleichtert schnaufend erreichte sie schließlich den verblassten Holzboden. Sie ließ den Korb mit den gesammelten Kräutern, den sie an einer Lederschlaufe über der Schulter getragen hatte, auf ein Tischchen aus grob gezimmertem Holz gleiten. Dann machte sie zwei weitere Schritte und plumpste mehr in ihren alten Schaukelstuhl, als sie sich hineinsetzte. Dedra war eine kleine Frau, knochig gebaut und vom Alter ausgemergelt. In jungen Jahren hatte sie durch ihre geringe Körpergröße und den grobschlächtigen Körperbau korpulent gewirkt, ohne es zu sein. Jetzt schien es, als zöge sich nur noch lederartige, faltige Haut über ihre Knochen und die meist geschwollenen Gelenke. Sie war spindeldürr, krumm wie ein alter Dornenbusch und runzlig wie eine blasse Rosine.
Den knorrigen Stock in der Linken, die von der Arthritis gekrümmte Rechte auf der Stuhllehne, saß sie da und wartete darauf, dass sie wieder zu Atem kam. Sie war tiefer in den Wald hineingegangen, als sie es vorgehabt hatte. Weiter durch die nasskalte Luft, als sie es vor einigen Jahrzehnten für die spärliche Kräuterausbeute hätte tun müssen, die nun in dem Korb neben ihr lag. Das Leben wurde stetig härter und sie wurde immer älter und schwächer. Sie saß mit rasselndem Atem leise keuchend da und versuchte so viel der schweren, feuchten Waldluft in die Lunge zu ziehen, wie sie konnte. Die krampfartigen Schmerzen in jedem Gelenk und Muskel unterhalb der Körpermitte ließen langsam etwas nach. Sie rieb sich vor und nach ihren Ausflügen den Körper mit einer dicken Salbe ein, was zumindest ein wenig Abhilfe schaffte. Dass die Wirkung gleichermaßen immer länger auf sich warten ließ, wie sie kürzer anhielt, war eine andere Geschichte. Mit jedem mühsamen Atemzug entspannten sich ihre verdorrten Muskeln ein wenig mehr. Die Bronchen fühlten sich freilich nach wie vor so an, als wollten sie ausgekotzt werden. Aber das taten sie inzwischen jeden Morgen, obwohl Dedra seit Jahren fast völlig auf die Kräuterpfeife verzichtete, die sie so liebgewonnen hatte.
Ihre alten, zu einer verwaschenen Farblosigkeit verblassten Augen streiften über den Wald, der einige Schritte vor der Veranda begann. Dieser Wald, die Hütte und das kleine Stück Land, auf dem sie stand, waren der einzige Ort, an dem sie sich je zu Hause gefühlt hatte.
Obgleich sie auch im letzten Lebensabschnitt nicht zur Rührseligkeit neigte, schlich sich eine schmerzhafte Traurigkeit in ihr altes Herz, wenn sie daran dachte, dass sie ihr bescheidenes Glück bald verlieren würde. Denn das war das Leben hier gewesen, eine Zeit der Zufriedenheit, ihrem Verständnis von Glück so nahe, wie sie es sich vorzustellen vermochte.
Sie lebte einfach und einsam, aber sie lebte gern. Das hatte sie schon immer getan, ganz gleich wie widrig ihre Lebensumstände gewesen waren. Sie hatte sich daran gewöhnt, für ihre Dörfler zu sorgen und wenn sie auch im Grunde wertlos waren, genoss Dedra doch den Respekt, den sie ihr entgegenbrachten. Sie mochte ihr einfaches Essen, das in den letzten Jahren zumeist aus Suppen bestand. Gemüse, teils wild gewachsen, teils von den Dörflern angebaut, selbst gesammelte Kräuter und Pilze und das eine oder andere Eichhörnchen oder Stück Fleisch aus dem Dorf. Schlicht und doch reichhaltig genug für eine alte Frau. Die nachmittäglichen und abendlichen Kräutertees, die immer öfter auch dazu dienten, die Schmerzen zu dämpfen und ihren Geist ein wenig zu entspannen. Und natürlich ihre Katze, ihren kleinen, pelzigen Schatz.
Besagtes Tier kam, nachdem Dedra leise seinen Namen gerufen hatte, aus einer nur ihm zugänglichen Ecke der Veranda geschlichen. Eigentlich mehr gehumpelt, wenn sie ehrlich war. Die Katze schnurrte laut und strich für einen Moment um ihre krummen alten Beine. Schließlich sprang sie mit einem leisen Miauen, das dem Keuchen seiner Besitzerin beim Erklimmen der Verandastufen nicht unähnlich war, auf Dedras Schoß. »Ach Grumpel, mein zerlumpter kleiner Liebling«, seufzte sie mit einer Stimme, so brüchig wie altes Laub, und begann den mageren Körper des Tieres behutsam zu streicheln. Das Fell war einmal pechschwarz und von seidigem Glanz gewesen. Aber Grumpel war für eine Katze so alt, wie es ihre Herrin für einen Menschen war und nun war ihr Pelz von einem verwaschenen, schmutzig wirkenden Eisgrau. Schuppig und mit der einen oder anderen kahlen Stelle verunziert war es ebenfalls. Grumpel war Dedra als junges, wildes Kätzchen zugelaufen, halb verhungert, zerkratzt und zerschunden. Keine zwei Monate war sie damals alt gewesen. Das war nur kurze Zeit nach dem Bau der Hütte, erinnerte sich die alte Frau. Wie schnell ein halbes Jahrhundert dahinflog.
Sie hörte auf das Tier zu streicheln, als es sich schnurrend in ihrem Schoß zusammenrollte und mit einem Schnaufen die Augen schloss. Ja, Grumpel und sie hatten beide lange über ihre Zeit gelebt, und sie würde bald nichts mehr für die Katze tun können.
Als Hexe hatte man Möglichkeiten, aber die Zeit war gnadenlos und unerbittlich. Sie war ein geduldiges, gemeines altes Miststück. Möglichkeiten und greise Frauen waren ihr ebenso gleichgültig wie Katzen, Hexen und alles andere. Irgendwann kam sie einen holen, und dann brachte sie einen zu ihrem alten Liebhaber, dem Gevatter Tod. Das war so unabwendbar, wie die Nacht dem Tag folgte.
Ihr Atem hatte sich inzwischen wieder beruhigt. Der saure, beißend riechende Schweiß klebte an ihrer pergamentartigen Haut und trocknete langsam. Grumpel schien bereits eingeschlafen zu sein, und sie fühlte die Wärme des Tieres im Schoß und die nasse Kälte am Rücken. Ihr Blick wanderte von dem dunklen, unwirtlichen Wald zu dem Inhalt des alten Weidenkorbes. Sie beugte sich zu dem Tischchen, auf dem er stand, und untersuchte die Ausbeute. Ein wenig Malorikraut gegen Sodbrennen und diverse andere Magenbeschwerden. Ein kleines Bund Bleichminze und wilder, immer seltener werdender Knoblauch. Er half gegen Fieber und Entzündungen, vor allem aber schmeckte er ganz vorzüglich und wärmte von innen. Daneben etwas Heckenwurz für die Behandlung mannigfaltiger Frauenleiden. Das Zeug verlor mit jeder Saison mehr von seiner Wirkung.
Читать дальше