Varg betrachtete das Tier noch einen Moment mit stetig wachsendem Unbehagen. Dann hob der den Kopf und suchte den Blick von Jorge. Im blassen, hageren Gesicht des Forstmeisters spiegelte sich tiefe Besorgnis. »Haben du oder deine Männer eine Ahnung, welches Tier die andere Hirschkuh angefallen haben könnte? Ist das hier das erste Mal, dass ihr so etwas gefunden habt? Und schließlich, wer beziehungsweise wie viele Leute wissen davon?«
Der Forstmeister schluckte hörbar und räusperte sich, bevor er antwortete. »Mein Lord, die Waldhüter haben seit letztem Herbst immer wieder mal ein Tier gemeldet, das etwas seltsam aussah. In diesen Fällen haben sie es geschossen und im Wald vergraben oder verbrannt.
Ich wollte Euch nicht wegen ein paar Missbildungen belästigen und die Leute auch nicht grundlos beunruhigen. So etwas kommt in manchen Jahren hier oben eben vor. Aber solche Wunden wie bei der zerbissenen Kuh haben wir vorgestern zum ersten Mal gesehen. Deswegen haben wie die Tiere mitgebracht. Meister Leoric war ebenso ratlos wie wir. Er wies uns an, euch zu rufen. Wir haben noch mit niemandem weiter darüber gesprochen.«
Der Mann schluckte erneut, verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse und ließ sich dann ebenfalls neben dem verwachsenen Tier in die Knie sinken. »Wenn ihr erlaubt, mein Lord.« Er legte der Hirschkuh den linken Arm um den Kopf und drehte ihn so, dass beide Jarle die Schnauze sehen konnten. Dann griff er dem Tier mit seiner behandschuhten Rechten in das Maul und drückte es auf.
»Blødy Føke, wie mein Großvater gesagt hätte«, hauchte der alte Jarl av Falksten in nachdenklichem Tonfall, »was ist das für eine widernatürliche Scheiße, die sich da in deinen Wäldern herumtreibt?«
»Ich nehme an«, sagte Varg mit belegter Stimme, »die Größe vom Gebiss passt mit den Wunden bei dem anderen Tier?«
Der Forstmeister nickte. »Die Männer haben die eine Kuh geschossen, als sie über der anderen gestanden hat und an ihr fraß. Oder es versucht hat.«
Im ersten Moment hatte der Jarl geglaubt, ein blutverschmiertes Raubtiergebiss im Maul der Kuh zu sehen. Die Zähne waren allerdings so flach und stumpf, wie es bei einem Pflanzenfresser zu erwarten war. Dennoch war das Gebiss mit getrocknetem Blut verschmiert. Zwischen den breiten, plumpen Mahlzähnen hingen vereinzelte Fetzen Gewebe, bei denen es sich um Fleischreste aus dem Körper des zweiten Tieres handeln musste.
»Dann hat die Hirschkuh mit den verrutschten Augen sich wohl gedacht, dass immer nur Grünzeug auf Dauer langweilig ist«, meinte der ältere Jarl, »Die Artgenossen sehen doch auch ganz lecker aus. Was genau machst du noch mal in deinen Wäldern, Varg? Irgendetwas, dass du mir erzählen möchtest?«
Der besorgte Klang seiner Stimme strafte die Unbefangenheit der Worte Lügen. Was auch immer mit diesen Tieren geschah, mochte eine Gefahr für eine der wenigen Nahrungsquellen bedeuten, die Norselund nach dem Grau verblieben waren. Wild spielte kaum mehr eine Rolle bei der Ernährung. Aber Krankheiten konnten ansteckend sein und auf die wertvollen Nutztiere übergreifen.
»Lass uns das später bei einem Stück Hirschbraten besprechen«, gab Varg trocken zurück. Er wandte sich erneut dem Forstmeister zu. »Bringt den Kadaver von der Kuh mit den Missbildungen zum Eingang vom Turm und packt ihn wieder ein. Damit wird sich Meister Leoric noch eingehender beschäftigen. Verbrennt der Rest und vergrabt die Asche.«
Er stand auf und ging einige Schritte zu den beiden Waldhütern und dem Wachmann hinüber.
»Ihr drei, und das gilt auch für dich und jeden anderen, der bislang damit zu tun hatte, Jorge. Ihr werdet über diese Sache Stillschweigen bewahren. Es mag Gerüchte über merkwürdige Tiere im Wald geben, die gibt es vermutlich ohnehin schon länger. Wenn mir aber in den nächsten Wochen zu Ohren kommt, dass sich Raubhirsche in unseren Wäldern herumtreiben, werde ich wissen, wer nicht das Maul halten konnte. Haben das alle verstanden?«
Die Männer murmelten zustimmend, und es hörte sich durchaus aufrichtig an. Die Stimme des Jarls hatte einen metallischen Klang angenommen, der ihnen nur zu vertraut war. »Wenn ihr wieder auf solche Tiere stoßt, seien es missgebildete oder welche mit derartigen Wunden, dann lasst sie im Wald. Verbrennt sie wenn möglich und vergrabt die Asche. Wenn Feuer keine Option ist, dann vergrabt die Kadaver, aber macht es tief und ordentlich. Ich will von diesem Zeug nichts mehr hier haben, aber meldet sie Jorge, und nur ihm. Jeden einzelnen Fall. Es ist wichtig, dass ich mir ein Bild davon machen kann, wie oft das passiert. Und nach Möglichkeit auch wo. Jorge, du sammelst diese Meldungen und erstattest mir einmal die Woche Bericht, verstanden?«
Der Forstmeister nickte stumm.
»Gut, dann räumt hier auf. Stian kommst du mit zu Leoric? Die Treppe ist ein wenig steil, du weißt schon«, er deutete vage in Richtung des Beines seines Freundes.
Der nickte nur und machte eine wegwerfende Geste. Sie gingen gemeinsam zum Eingang des Turmes, in dem der alte Haushofmeister lebte. Die Männer begannen stumm damit, die Kadaver der Tiere wegzuschaffen.
»Bald kannst du dir statt Hunden Wachhirsche halten, das hat sicher kein anderes Haus im Königreich zu bieten. Wird vielleicht endlich mal ein neuer Exportartikel. Eine Alternative zu den langweiligen Eisenbarren«, bemerkte Stian, während er auf den Stock gestützt neben dem Burgherrn zum Eingang des Turmes ging. Dieser warf einen kurzen Seitenblick auf den Freund und sah, dass er trotz seiner Worte blasser war als sonst. Die zahllosen Falten in dem alten, harten Gesicht schienen noch einen Millimeter tiefer geworden zu sein.
»Wenn uns das Wild verreckt«, meinte Varg leise, »oder sich gegenseitig auffrisst, wird die Nahrungsversorgung mancherorts vielleicht ein bisschen dünner. Das würde kein großes Problem darstellen. Darüber, dass dieses Zeug für die Nutztiere ansteckend sein könnte, möchte ich allerdings lieber nicht weiter nachdenken.«
»In der Tat«, stimmte Stian abwesendem Ton zu, »ich weiß noch, wie es sich anfühlt, wenn der Hungertod mehr ist, als nur ein Schreckgespenst. In meiner Kindheit war der Hunger der Schnitter, der fleißig sein Tageswerk um uns herum verrichtet hat. Ich war natürlich als Familienmitglied des Jarls besser versorgt als die armen Schweine da draußen, aber auch ich weiß noch recht gut, wie lecker wässriger Getreidebrei im Gegensatz zu Luft sein kann. Ich war heilfroh, als sich die Lage damals langsam normalisiert hat. In meinen späten Jugendjahren hatte ich jedenfalls wieder jeden Tag etwas zu essen und es ist nicht jede Woche jemand verreckt, den ich kannte.«
Als sie die schwere Eisenholztür des Turmes erreichten, ergriff Varg mit der behandschuhten Rechten den mit Holz verkleideten eisernen Bügel und drückte dagegen. Fast geräuschlos schwang der beschlagene Türflügel auf und gab den Blick in einen kleinen, dunklen Vorraum frei. Eine schmal gewundene Treppe führte steil nach oben.
Stian seufzte beim Anblick der zahlreichen, flachen Stufen.
»Ein alter Krüppel hinauf oder ein steinalter Tattergreis hinab, einen muss es treffen. Diesmal ist die Reihe wohl an dem alten Krüppel.«
»Wenn du das nächste Mal da bist, habe ich sicher schon ein paar von den Wachhirschen darauf abgerichtet, meine ältlichen Freunde durch die Gegend zu tragen«, meinte Varg. »Komm schon, jeder Heiler hat dir bis jetzt gesagt, dass Bewegung deine Beschwerden lindern wird. Wir gehen ja langsam.«
Der andere seufzte erneut und sie begannen den Aufstieg.
Leoric Holstodden war einer der letzten noch lebenden Magier, die den Krieg zwischen Norselund und dem Königreich vor achtzig Jahren miterlebt hatten. Die Hochzeit der Magie war schon seit Jahrhunderten vorbei. In den alten Tagen hatte jede Mark des Reiches über ihre eigene Magiergilde verfügt.
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