„Sonst“, überlegte sie gespielt und nuschelte dann etwas Unverständliches.
„Wie war das?“, musste er nachfragen.
Sie stöhnte genervt auf und gestand: „Ich hab so einem Arsch die Fresse poliert.“
Mit großen Augen blickte Jules sie an. „Schon wieder? Dani, das neue Jahr ist noch keine Woche alt!“
„Was kann ich dafür, wenn solche Typen ständig mich anquatschen?! Hab ich ein Schild um den Hals hängen, das mich als Nutte kennzeichnet? Nein! Also gibt’s eine drauf!“
„Na ja … Du bist ziemlich süß“, gestand er ihr offen.
„Das darfst du zu mir sagen, doch nicht jeder Dritte von der Straße!“
„Ich fühle mich geehrt.“
Schmollend aß Dani einen Happen und sagte kauend: „Na, jetzt ist es sowieso zu spät. Ich werde mir dann erst mal wieder die Haare färben und geh irgendwann zum Friseur für einen Kurzhaarschnitt. Ich denke kaum, dass wegen dem Penner hier die Bullen auf der Matte stehen werden.“
„Dein Wort im Ohr eines jeden Gottes.“
„Die Polizei hat dringendere Probleme als mich“, nahm sie das Geschehene leicht auf.
Jules zwang sich zu einem weiteren Stück Lasagne, ehe er fragte: „Zum Beispiel? Sind etwa noch mehr Leute verschwunden? Gut, im Winter geht so einiges um, aber dieses Jahr sind es auffällig viele …“
„Ich sage nichts, bevor du nicht aufgegessen hast“, tadelte Dani ihn wie eine Mutter.
„Bin satt, Schatz.“
„Jules.“
Wie sie seinen Namen aussprach … Tief durchatmend machte er sich daran, seinen Teller zu leeren.
„Ich bin an der Uni vorbeigelaufen“, fing Dani an zu erzählen, da er das letzte Stück Tofu-Hackfleisch in den Mund steckte. „Hab dort den alten Reinert am Rande gesehen.“
Bissig zischte Jules ein fremdländisches Schimpfwort beim bloßen Gedanken an den verhassten Dozenten, mit dem er sich bereits angelegt hatte, als er noch Student war. Selbstverständlich leuchtete ihm ein, dass dies nicht die Neuigkeit war, auf die seine Freundin es anlegen wollte. Trotzdem musste er sich konzentrieren, den Mistkerl aus seiner Gedankenwelt wegzuschieben und das eigentliche Thema zu erfassen.
„Jedenfalls“, fuhr sie fort, „hab ich dabei gehört, dass ein Student vermisst wird …“
„Bei den Betonköpfen im Lehrstuhl keine Überraschung“, konnte er sich den Spott nicht verkneifen.
„… das war vor zwei Tagen. Er war mit Freunden Darts spielen und das ging bis tief in die Nacht hinein. In seiner WG ist er nie angekommen und es gibt keinerlei Hinweise, was mit ihm geschehen sein könnte.
Auf Arbeit habe ich außerdem im Radio gehört, wie die Polizei eine Leiche gefunden hat. Oder zumindest das, was von ihr übrig war. Vielleicht ist es der Student, vielleicht auch jemand von den anderen, die verschwunden sind – wird sich zeigen, doch es hieß, die Knochenteile sahen aus, als hätte ein Hund oder Wolf daran genagt. Ein ziemlich großer noch dazu, größer als die bekannten Rassen.
Was würdest du also vermuten?“
Jules fingerte nach einer neuen Zigarette und sog den Rauch in seine Lunge. Seine ersten Gedanken zum Thema äußerte er sachlich: „Die allgemeinen Gottheiten in Wolfsgestalt schließe ich komplett aus. Die hätten wenig Interesse an einem simplen Menschenleben und erst recht keines am Fleisch ihrer Opfer. Solange sie keinen festen Leib besitzen, verzehren Geisterwesen auch nur geistige Nahrung.
Wenn Ragnarök nicht gerade bevorsteht, fallen Garm und Fenrir auch aus und für Anubis, einen Inugami, Barguest, Crocotas, Diwo, Wendigo und die ganzen ausländischen hundeartigen Dämonen ist hier kein übliches Jagdgebiet. Beschränken wir uns also auf die heimischen oder umherziehenden Arten.
Klushund, Welthund, Roggenwolf, Bärenwolf, Kludde, Eisengrind – die Liste ist lang. Allerdings sind viele dieser Wesen in ländlichen Regionen zu Hause und meiden die Großstädte, die ihnen mit ihren hellen Nächten zuwider sind. Schwer zu glauben, dass auch Kreaturen der Hölle etwas abscheulich finden, wie?
Nur wenige Dämonenhunde suchen bewusst die Nähe vieler Menschen auf, scheuen das künstliche Licht nicht und fressen bevorzugt viel im Winter, wenn die Nächte lang sind, um dem Sonnenlicht zu entgehen.
Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber in Anbetracht der in kurzer Zeit gestiegenen Zahl an Vermissten, der abgenagten Knochen und der partiell auftretenden Versorgungsprobleme der Stromwerke, rechne ich damit, dass diese Stadt aktuell von einem Rudel Lichtfänger heimgesucht wird.“
Jeder andere hätte nach diesem Vortrag gelacht und die Ambulanz angerufen. Für kluge, rationale Ohren war das, was Jules erzählte, ein Fall für die Anstalt. Wie oft hatte man ihn für seine Theorien verhöhnt und sein Wissen als Fantasie abgetan? Ammenmärchen, Gruselgeschichten und wilde Spekulationen – zu mehr genügte den Leuten „sein kleines Hobby“ nicht. Er sollte lieber Romane schreiben als wissenschaftliche Texte zu verfassen. Dann würde er zumindest was daran verdienen.
Dani jedoch lachte nicht. Er wusste, dass für sie diese Vermutung alles änderte. Siebzehn Jahre hatte sie fieberhaft darauf gewartet, dass diese Geschöpfe auf ihrer Route zurückkehrten. Die Zeit für ihre lang ersehnte Rache war gekommen.
Lichtfänger. Canis lucis flagrare. Dämonen in der Gestalt großer Hunde oder Wölfe. Überaus gefährlich für jeden Menschen, der sich des Nachts auf die Straße wagt. Ihre Krallen sind hart und scharf wie Damaszenerstahl und ihre Zähne machen auch vor einer Eisenrüstung nicht Halt. Sie leben in kleinen Gruppen, ihre Territorien sind weltweite Landstriche und sie wandern stets umher, immer auf der Suche nach Nahrung. Dabei fressen sie nicht nur Menschenfleisch, sondern auch Energie, was oft zu Stromausfällen führt. Stromzehrer werden sie deswegen auch genannt. Kurokiba oder der Schwarze Wolf, der mit Blitz und Donner erscheint und seine Opfer verschlingt. Der böse Meister Isegrim bei Rotkäppchen ist kein Märchen. Unaufgeklärt ist der Fall der mörderischen Bestie von Cévaudan. Meneur des Loups nannten die Franzosen eine Bestie, die mit Menschenzunge sprach …
Unzählige Berichte aus jedem Buch, dass er zum Thema Monster gelesen hatte, fluteten Jules’ Hirn. Wissen aus Jahrhunderten, Tausende von Volkssagen und Millionen von Gerüchten.
Sollten Kleingeister wie Immanuel Reinert denken, bei ihm seien zig Schrauben locker. Es gab Titel, die die stumpfsinnige Universität ihm nicht verleihen konnte.
Jules war Professor für paranormale Erscheinungen, Dämonologie, Kryptozoologie und Metaphysik. Rein „hobbymäßig“.
Und Dani glaubte ihm.
Sie hatte ihm auch schon bedingungslos geglaubt, als sie sich gerade erst kennengelernt hatten.
War es doch ein Lichtfänger gewesen, der ihre Eltern tötete.
Kindheitserinnerungen
Zur Weihnachtszeit putzte sich die Innenstadt festlich heraus mit goldenen Schleifen und riesigen roten Schmuckkugeln. Überall roch es nach Zuckerwatte, Gewürz und Glühwein. Menschenmassen trafen auf dem Markt zusammen, während auf der Schaubühne ein Kinderchor Lieder vom Heiligen Christ sang und ein verkleideter Mann den Nikolaus mimte.
Die siebenjährige Dani verfolgte mit offenem Mund die wackelnden Holzspielzeuge in einer Bude, derweil ihre Eltern Grog tranken. Ihre Mutter hatte Kerzen zum Verschenken gekauft. Sie war eine schöne, schlanke Frau mit langen blonden Haaren, die ihre Tochter geerbt hatte.
Auch wenn kein Schnee lag, ließ ein kalter Luftzug das Mädchen frösteln. Allmählich wurde es spät. Die Ziegen bei der aufgestellten Krippe hatte man bereits in den provisorischen Stall gesperrt und die hiesige Großstadtjugend begann laut auf ihre Art die Festtage zu genießen.
„Lass uns heimgehen, Daniela“, sagte ihr Vater. Wenn sie ihn so in seiner dicken Winterjacke betrachtete, erinnerte er sie an einen großen Teddybären mit dunklem Fell. Mit Leichtigkeit hob er sie in die Höhe und nahm sie auf die breiten Schultern, um sie unbeschadet durch das Gedränge führen zu können.
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