Solch ein enormer Fundus an Lebenserfahrung prädestinierte Grahlum natürlich dazu, dem König als Berater zu dienen. Darüber hinaus gehörte es zu seinen Aufgaben als Druide, sich um die mystischen, übersinnlichen Belange des Barbarenstamms zu kümmern. Dies beinhaltete das gelegentliche Opfern von Lebewesen, das Brauen geheimnisvoller Tränke und die Kommunikation mit diversen Naturgeistern. Nur noch selten kam er jedoch dazu, sich diesen Verpflichtungen zu widmen, denn auch die Kranken und Verwundeten des Stammes fielen in seinen Zuständigkeitsbereich.
Letztere gab es aufgrund der mehrmals wöchentlich stattfindenden Gemetzel natürlich massenhaft. Er behandelte deshalb nur diejenigen, deren Wiederherstellung voraussichtlich vollständig und somit wertvoll hinsichtlich der Kampfkraft des Stammes sein würde. Dem Rest bereitete er ein schnelles und humanes Ende mit der Streitaxt.
»Zorm!«, rief der Greise erfreut, als er den Zerfetzer sah. »Du bist wieder zurück aus der Schlacht! War bestimmt ein nettes kleines Massaker. Hattest du viel Spaß?«
Während der Druide frohen Mutes näher trat, sah Zorm ihn vorwurfsvoll an. Der uralte Barbar konnte sich natürlich nicht erklären, womit er diese strafenden Blicke verdient hatte.
»Ob ich Spaß hatte?«, fragte der blonde Krieger. »Wie kannst du mir eine so gefühllose Frage stellen? Es war eine grausame, blutige Tragödie! Ich habe den größten Teil meiner Männer in dieser Schlacht verloren. Kaum einer hat es zurück ins Dorf geschafft. Erschlagen und vergessen liegen sie nun fern der Heimat herum und dienen den Krähen als Futter! Und du fragst mich allen Ernstes, ob ich Spaß hatte?«
Man hätte fast meinen können, die Verwirrung würde sich wie ein Virus in dem Langhaus verbreiten, denn die gleiche Verblüffung ergriff nun Besitz von Grahlum, wie sie auch der König noch immer verspürte.
»Na und?«, wunderte sich der Druide. »Das ist doch bei all unseren Schlachten so. Oftmals kommt gar kein Kämpfer aus ihnen zurück und das ist auch ganz gut so. Schließlich berücksichtigen wir diese Verluste ja auch bei der Kalkulation unserer Nahrungsreserven.«
Unverhohlene Missachtung und Entrüstung schlugen dem Druiden nun aus dem Antlitz des Zerfetzers entgegen. »Wie könnt ihr nur so herzlos sein? Ist euch das Leben der anderen Stammesmitglieder denn gar nichts wert? Ihr sprecht vom Töten, als sei es das Normalste auf der Welt. Das ist doch … barbarisch!«
Der Barbar hielt verdutzt inne. Irgendwas schien ihn an seiner eigenen Aussage zu verstören.
»Unser guter Zorm tickt nicht mehr ganz richtig«, mischte sich nun der König wieder ein, der noch immer vor seinem Thron stand und sich mit der flachen Hand seinen Hintern rieb. »Du wirst es nicht glauben, Druide, aber er ist vor Morack Meuchelhammer aus dem Kampf geflohen. Er hat einfach die Biege gemacht und nun sülzt er mich voll mit irrem Geschwafel von friedvoller Konfliktbewältigung und ähnlichem Tinnef. Er hat sogar behauptet, dass Gewalt nicht die Lösung für alles sei.«
Von diesen Worten geradezu schockiert und mit sorgenvoller Miene betrachtete Grahlum den blonden Hünen eingehend. Dann ging er langsam um ihn herum, blieb vor ihm stehen und legte ihm die linke Hand auf seine Stirn.
»Hast du vielleicht einen Schlag auf den Kopf bekommen?« Mit dem Daumen schob er das linke Augenlid des Zerfetzers nach oben, um dessen Augapfel begutachten zu können. »Oder hast du irgendeine andere Verletzung während der Schlacht erlitten?«
Zorm wischte die Hand des Druiden mit einer groben Bewegung beiseite. »Mir fehlt gar nichts«, stellte er dann fest. »Ich habe mich noch nie so gut gefühlt wie in diesem Moment. Nach all den Jahren des Kämpfens und des Mordens verspüre ich nämlich so etwas wie Frieden in mir. Die Erkenntnis ist in mir erwacht, dass nur ein friedvolles Miteinander aller Rassen dieser Welt ein erstrebenswertes Ziel ist. Nur diesem Ziel werde ich mich fortan widmen.«
Zorm der Zerfetzer musterte erst den Druiden, dann sogar den König mit abfälligen Blicken, die fast schon an Majestätsbeleidigung grenzten. »Aber das könnt ihr beiden natürlich nicht verstehen. Ihr seid weiterhin gefangen in diesem jahrhundertealten Irrglauben, dass Krieg und Zerstörung der Sinn eurer Existenz sei. Mitgefühl, Barmherzigkeit, Einfühlungsvermögen – all das ist euch fremd. Euch fehlt die Fähigkeit zur Empathie.«
Als Geste der Hilflosigkeit warf Storne Stahlhand seine Arme in die Luft. »Jetzt lässt der sich auch noch neue Wörter einfallen! Die Blitzbirne ist doch total meschugge!«
Grahlum winkte den König wortlos zu sich. Gemeinsam entfernten sie sich so weit von Zorm, dass dieser ihre gedämpften Stimmen nicht mehr vernehmen konnte. Neben der Festtafel unter dem gestrengen Blick einer Elchtrophäe steckten sie ihre Köpfe zusammen.
»Ich habe keine Ahnung, was mit dem Burschen los ist«, gab der Druide flüsternd zu. »Aber so können wir ihn auf gar keinen Fall im Dorf herumlaufen lassen. Mit seinem ganzen Gequatsche von Frieden und diesen seltsamen, erfundenen Wörtern erschreckt er die anderen ja zu Tode.«
Storne nickte ernst. »Soll ich ihm die Runkel runterhauen?«
Erst nach einigem Zögern und Nachdenken verneinte Grahlum. »Vielleicht finde ich ja doch heraus, was mit ihm nicht stimmt. Bis dahin sollten wir ihn irgendwo einsperren. Wie wäre es mit der Rauschhöhle?«
Wieder stimmte der König ihm zu. Die Rauschhöhle befand sich am Rande des Dorfes. In ihr wurden alkoholisierte Barbaren eingesperrt, die bei einem der regelmäßig stattfindenden Besäufnisse über die Strenge schlugen oder bei den obligatorischen Schlägereien zu viel Schaden anrichteten. Für einen geistig derart aus der Fassung geratenen Burschen wie Zorm war dies natürlich eine ideale Unterbringungsmöglichkeit.
»Also gut«, sprach Storne deshalb. »Du lenkst ihn ab und ich setze ihn außer Gefecht.«
Während sich Grahlum nun mit einem aufgesetzten Lächeln Zorm zuwandte, schlenderte der König einmal um die Festtafel herum, um sich dem Zerfetzer unauffällig von hinten nähern zu können. Dabei nahm er einen der vielen Hocker mit, die um selbige herumstanden. Selbstverständlich waren diese Hocker sehr massiv und aus extrem harten Holz gefertigt. Immerhin mussten sie das Gewicht eines ausgewachsenen Barbaren aushalten und nur in den seltensten Fällen betrug selbiges weniger als einhundertzwanzig Kilo.
»Mein lieber Zorm«, begann der Druide nun weiterhin scheinheilig grinsend. »Wie stellst du dir denn dieses friedliche Miteinander aller Rassen so vor? Sollen wir eine Art Rat bilden, in den jede Rasse ihre Vertreter entsendet? Und anstatt sich wie bisher gegenseitig abzumurksen, diskutieren die dann dort miteinander?«
Augenscheinlich bereitete es dem alten Kapuzenträger einiges an Mühe, bei diesen Worten ein Kichern zu unterdrücken. Kein Wunder also, dass sein Verhalten das Misstrauen des Zerfetzers erregte.
Dieser legte seine Stirn in Falten. »Was soll das? Dein Interesse und deine Freundlichkeit sind ganz offensichtlich ebenso falsch wie dein Grinsen. Was hast du vor?«
»Aber Zorm, mein Freund, traust du mir etwa nicht?« Die vorgetäuschte Betroffenheit des Druiden war ganz sicher kein Beweis großer Schauspielkunst. »Ich will dir helfen und dich verstehen. Als Erstes möchte ich mehr über diese M-Party erfahren, von der du vorhin gesprochen hast.«
»Das heißt Empathie!«, entgegnete Zorm. »Und Leute wie du …«
Von weiteren Erklärungen hielt ihn ein Schlag ab, den er an seinem Hinterkopf verspürte. Dieser war zwar schmerzhaft, doch keinesfalls heftig genug, um den Barbaren niederstrecken zu können. Um einen massiven Holzhocker in Brennholz zu verwandeln, dafür reichte dessen Wucht allerdings aus.
Empört drehte sich Zorm zu dem hinter ihm stehenden König um. »Sag mal, was war denn das jetzt für eine Aktion? Dir ist schon klar, dass so etwas wehtut?«
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