Wilhelm geht immer noch ans Gymnasium. Dort hat es grosse Änderungen gegeben. Viele Schüler haben aufgegeben. Was sollen sie mit dem Abitur anfangen. Arbeit werden sie auch mit einem Diplom keine finden. Es gibt unter den Arbeitslosen zu viele Akademiker. Zurzeit sind eher Leute mit starken Muskeln gefragt. Kerle die anpacken können. Die Klasse ist um die Hälfte geschrumpft und wird nur noch von einem Lehrer unterrichtet.
In den Strassen von Worms finden wöchentlich Demonstrationen statt. Sowohl rechts wie links mobilisieren ihre Leute. In der Schule gibt es zwei Lager. Von der Herkunft her gehört Willi eigentlich zu den rechten, doch die jüdische Urgrossmutter verhindert einen Beitritt zur Hitlerjugend.
So ist er gezwungen, sich mit den immer seltener werdenden Söhnen der linken zusammenzutun. Er tritt dem SV Wormatia Worms bei. Fussball hat ihn schon immer begeistert. Die Mitglieder sind meistens links orientiert, doch es dominiert der Fussball, Politik bleibt draussen. Nach anfänglichen Problemen, wird er immer besser und steigt vom Ersatzspieler zur Stammelf auf, allerdings nur in der zweiten Mannschaft.
In der Schule hat er immer noch viele Freunde. Auch solche die jetzt in der Hitlerjugend sind. Die erzählten von ihren Zeltlagern und Schiessübungen welche sie jedes Wochenende organisieren. Da können die Fussballer nicht mithalten. Eigentlich würde Willi auch gerne ins Zeltlager und bei Schiessübungen teilnehmen, aber sein Bericht über den Besuch bei seiner jüdischen Urgrossmutter, haben die anderen Schüler noch nicht vergessen. Wie konnte er nur so dumm sein, mit einer jüdischen Urgrossmutter anzugeben. Heute wäre das undenkbar, doch damals war das noch normal.
Zumindest Gabi schätzt es, dass er nicht in der Hitlerjugend ist. Ihre Familie steht politisch, auf Grund ihrer Herkunft, links. Sie besucht jedes Fussballspiel in dem Willi mitspielt, sogar wenn sie auswärts antreten, fährt sie mit dem Rad hin und unterstützt ihn mit lauten Zurufen.
In der goldenen Gans bereitet man sich auf eine spezielle Nacht vor. Max Schmeling boxt diese Nacht in New York. Der Wirt hat ein Radio organisiert, dass der Kampf direkt verfolgt werden kann. Eigentlich müsste er die Kneipe nachts schliessen, aber man hat vorgesorgt. Um Mitternacht sieht es so aus, als ob alle nach Hause gingen, doch die Leute kommen durch den Kellereingang wieder zurück in die Kneipe. Natürlichen heisst es ab diesem Zeitpunkt ruhig sein. Alles versammelt sich in der hinteren Stube, die für Versammlungen vorgesehen ist. Von dort dringt kein Laut nach draussen.
Der Kampf gegen den als unschlagbar geltenden Sharkey beginnt. Gespannt lauschen die Leute der Stimme des Reporters. Schmeling beginnt gut, doch es ist nicht zu verkennen, dass Sharkey sehr stark ist. Auch wenn der deutsche Reporter jede Aktion von Schmeling über Gebühren lobt, so ist nicht zu verheimlichen, dass er viel einstecken muss. Auf jeden Fall mehr als es dem Reporter lieb ist.
Immerhin, die ersten drei Runden hat er überstanden, das schafften bis jetzt nur die wenigsten. Dann wird die Stimme des Reporters laut.
«Max krümmt sich vor Schmerzen, es sieht schlechte aus, aber das war ein Tiefschlag, der ihn ausser Gefecht gesetzt hat».
Danach ist der Reporter verstummt, die Halle scheint zu toben.
«Der Kampf ist zu Ende», findet der Reporter seine Stimme wieder, «wird Max der Titel gestohlen?»
Die Spannung ist auch in der Kneipe zu spüren, ist das das Ende des Traums?
«Max ist Weltmeister!», - die Stimme des Reporters überschlägt sich beinahe. «Sharkey wird disqualifizier. Max ist Weltmeister, - Weltmeister, Weltmeister!»
In der Kneipe bricht Jubel aus. Max ist einfach der Grösste.
Mit dem Gefühl, wir Deutschen sind Weltmeister , verlassen die letzten Gäste die Kneipe erst, als es draussen schon hell war. Auch Franz hat ein bisschen zu viel getrunken, doch Rosa schläft schon fest, als er zu ihr ins Bett steigt.
Ende Juni ist es dann soweit, die Franzosen ziehen ab. Endlich ist Worms wieder deutsch. Endlich kann man die Ernst Ludwig Brücke überqueren, ohne dass man mit einer Kontrolle durch die Franzosen rechnen muss.
Die Freude in der Bevölkerung ist gross, nur öffentlich zeigen wollte man es nicht. Die Hauptsache ist, dass sie endlich gehen. Mit gemischten Gefühlen schaut Maria den letzten LKWs nach. Die Nacht von Mannheim spukt immer noch ab und zu in ihrem Kopf herum, zum Glück hat nie jemand davon erfahren.
Der Abzug der Franzosen verursacht in Worms eine optimistische Stimmung. Nur, der Lebensstandard steigt deshalb nicht wirklich an, die Armut ist nur besser zu ertragen.
Der Winter 1931 ist etwas wärmer, als die letzten Jahre. Trotzdem leiden die Einwohner von Worms unter der Wirtschaftskrise. Immer mehr Arbeitslose bedeutet auch für die Geschäfte wenig Umsatz und stark sinkende Erträge. Auch die goldene Gans musste Einbussen verkraften, doch lange nicht so viel, wie andere Kneipen. Das Konzept stimmte und Matrosen haben immer Geld. Aber die schlechte Wirtschaftslage führt dazu, dass weniger Schiffe in Worms anlegen. Auch Familie Wolf muss zurückstecken, doch im Vergleich mit vielen anderen Wormser sind sie gut dran.
Das Strassenbild in Worms verändert sich. Immer mehr junge Männer in Uniformen stolzieren durch die Gassen. Ihr Benehmen gibt zu Sorgen Anlass. Zivilisten müssen aufpassen, dass nicht eine Gruppe uniformierter sie aufs Korn nimmt. Wahllos werden Leute angegriffen und verprügelt. Nach einem Überfall ist es besser, sich ruhig zu verhalten. Eine Anzeige bei der Polizei ist zwecklos. Die Banden werden durch sie geschützt. Wenn man Pech hat, landet man als Anstifter einer Schlägerei im Knast.
Franz hat gelernt mit ihnen umzugehen. Wenn ihm eine Gruppe begegnet, hebt er den rechten Arm und grüsst zackig. Das macht Eindruck und hilft darüber hinweg, dass er kein Parteiabzeichen trägt. Sein Verhalten ist ihm innerlich zuwider, es ist jedoch besser als verprügelt zu werden. Er sehnt sich nach der Zeit des Kaisers zurück.
Der Winter 1932 ist wieder sehr streng. Franz muss langsam seine Reserven anzapfen. Um wenigstens ein Zimmer warm halten zu können, tauscht er drei Laib Käse gegen Briketts ein. Zu Essen gibt es Sauerkraut und Kartoffeln, ab und zu kocht Rosa ein bisschen Schinken.
Als sich endlich der Frühling ankündigte, ist das Schlimmste überstanden. Aus dem Garten gibt es frühen Salat. Mit der wärmeren Jahreszeit legen wieder mehr Schiffe im Hafen an und die goldene Gans macht mehr Umsatz.
Ende Mai hängen überall in der Stadt Plakate, welche auf einen Auftritt von Adolf Hitler im Wormatia Stadion am 12. Juni hinwiesen. Das ist ein grosses Ereignis und wird von vielen mit Begeisterung erwartet.
Für Franz hatte der Besuch von Hitler verheerende Folgen. Die SA wollen Worms im besten Licht erscheinen lassen. Am 3. Juni stürmen zwanzig SA-Leute die goldene Gans und schlagen alles zusammen. Es gab einige verletzte Gäste. Der Wirt wird schwer verletzt in Spital eingeliefert. Franz hat Glück, er war zum Zeitpunkt des Überfalls nicht im Lokal. Die SA nahm es dem Wirt immer noch übel, dass sie in Uniform nicht ins Lokal durften. Jetzt kann gar niemand mehr ins Lokal. Die Türe der goldenen Gans wurde mit Brettern vernagelt.
Brauchbar ist das Lokal eh nicht mehr. Das gesamte Mobiliar wurde zertrümmert. Nun hat Franz seine Haupteinnahmequelle verloren. Dank dem Garten kann er sich über Wasser halten, aber was bringt der nächste Winter?
Dann kommt der 12. Juni. Zu tausenden strömen die Leute ins Stadion. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Stadion wütete der Mob. Alles was nach jüdisch aussieht, wird zerstört. Zum Glück liegt der Laden von Goldberg nicht in der Nähe des Stadions. Vorsorglich hat er das Geschäft die ganze Woche geschlossen. Kunden sind eh selten geworden. Neue Uhren kann er schon lange nicht mehr verkaufen. Lediglich mit Reparaturen, welche Joshua durchführt, hält er sich über Wasser.
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