»Sie muss ja auch an ihr Kind denken«, sagte sie sich.
Udo, der Fischer, schien ihr zu alt für Sylvia, ebenso ihr eigener Bruder Jörg (dessen Aktivitäten in dieser Richtung sie mit Sicherheit längst registriert hätte). Da wäre eher Sönke, der Koch in der hiesigen Jugendherberge, als Kandidat wahrscheinlicher, obgleich sein wortkarger und abweisender Habitus wenig attraktiv auf Frauen wirken dürfte. Oder vielleicht Lorenz Beck, der Ladenbesitzer? Immerhin war er wie Sylvia verwitwet und der Altersunterschied zwischen ihnen wäre nicht allzu groß. Am liebsten wäre es der Witwe Appelhoff allerdings gewesen, wenn es sich um den jungen Ortspolizisten Hövelmeyer handelte, der mit seinem schlichten Gemüt und sicherem Job Stabilität und Herzenswärme in die Familie brächte. Über diese und ähnliche Grübeleien verging die Zeit, bis das kleine Gärtnertrio seine Tagesschicht beendet hatte und für den Rest des Nachmittags von der schweren Arbeit entbunden wurde.
»Bis morgen«, hörte die Witwe Appelhoff ihren Bruder den Kindern nachrufen. »Dann werden die Hecken beschnitten, so weit wie ihr kommt!«
Sie schreckte auf und merkte, dass sie doch ein wenig geschlummert haben musste. Doch wie es bei Krankheiten manchmal vorkommt, fühlte sie sich jetzt noch weniger ausgeruht und es schwirrte ihr der Kopf. Da steckte Jörg den Kopf ins Krankenzimmer und erstattete kurz Bericht:
»Die drei Racker haben die Beete ganz gut hinbekommen, Lotte. Ich schlage vor, dass morgen die Hecken und übermorgen das Rasenmähen dran ist, damit es für sie abwechslungsreich bleibt. Sollen sie das Geld Ende jeder Woche kriegen oder erst, wenn alles vorbei ist?«
»Ende jeder Woche, das habe ich mit Kruses ausgemacht«, antwortete die Witwe Appelhoff, ihre Gedanken ordnend. »Aber viel wichtiger: Weißt du zufällig, mit wem die Sylvia Hartung-Prott zurzeit herumturtelt?«
»Lilianes Mutter? Was hat das mit dem Garten zu tun?«
»Nichts. Gerlinde deutete so etwas an und…«
»…du bist halt neugierig.«
Jörg lächelte mit milder Nachsicht, wie es gewöhnlich sonst nur alternde Großväter bei ihren Enkeln tun. Die Witwe Appelhoff konnte sich nicht verteidigen, denn ihre Nase begann zu laufen und sie musste ihr zweitbestes Taschentuch zur Hand nehmen, das mit gelben und weißen Rosen bedruckt war.
»Um dich zu beruhigen, Gerlinde hat auch mir gegenüber Anspielungen gemacht«, fuhr Jörg fort. »Offenbar meint sie, dass ein fremder Tourist eine Affäre mit der Hartung-Prott hat, weil er immerzu den Mühlenweg entlangspaziert, wo sie wohnt, und auch auf der Wiese dahinter seine Runden dreht. Ich persönlich denke, dass er einfach nur die Natur beobachten will, aber Gerlinde…«
Es klingelte. Jörg erhob sich, um die Haustür zu öffnen, und die Witwe Appelhoff vernahm zunächst Stimmen, die lauter wurden, dann Schritte, die sich näherten, und zu guter Letzt schaute Malte John, der Postbote, in ihr Zimmer. Der Witwe Appelhoff passte das gut, denn Malte trieb sich berufsbedingt in ganz Friedershagen herum und würde am ehesten über den neuesten Klatsch und Tratsch Bescheid wissen. Im Moment allerdings stand er nur da und druckste herum.
»Wenn Sie mir sagen wollen, dass meine bestellten Flyer von der Spendenaktion noch nicht da sind, brauchen Sie kein schlechtes Gewissen zu haben«, versuchte die Witwe Appelhoff das Eis zu brechen. »Der Arzt hat mir verboten, in meinem jetzigen Zustand für die Straßenkinder zu kämpfen.«
»Oh, darum geht es mir gar nicht«, gestand Malte, »obwohl die Flyer endlich geliefert wurden. Sie können also jeden Bürger von Friedershagen mit dem Schicksal Ihrer obdachlosen Jugendlichen konfrontieren. Nein, es geht um etwas ganz anderes. Ich brauche Ihren Rat. Aber wenn Sie sich krank fühlen…«
»Es ist nur die Sommergrippe, halb so wild. Erzählen Sie.«
»Nun, Sie kennen doch sicher den Mühlenweg, wo die Frau Hartung-Prott wohnt, oder?«
Die Witwe Appelhoff war verblüfft.
»Wollen Sie mir jetzt auch von dem sonderbaren Herrn mit der Pompadour-Frisur erzählen?«, fragte sie.
Der Briefträger schüttelte den Kopf.
»Von einem sonderbaren Herrn weiß ich nichts. Nein, es geht um die Leute vom Mühlenweg. Ich habe Ärger bekommen, weil ihre Post schon zweimal verloren gegangen ist. Richtig heftigen Ärger!«
Diese Worte aktivierten auf Anhieb das ohnehin stark ausgeprägte Helfersyndrom der Witwe Appelhoff. Die Kranke richtete sich auf und hörte gespannt zu, was der Postbote zu erzählen hatte.
»Es ist so, dass ich neben meinem Briefträgerjob auch den Zustellservice von Kurold, dem neuen Paketdienst aus der Werbung, übernommen habe. Mit meinem Moped und dem stabilen Beiwagen ist das gut zu schaffen. Aber nun gingen laut Kurold schon zwei Sendungen nach Friedershagen verloren und Beschwerden gingen ein. Und nicht nur Beschwerden: Die Pakete waren jeweils versichert und Kurold musste blechen!«
»Das ist ärgerlich. Aber was hat das mit Ihnen zu tun, Malte?«
»Die Rückverfolgung hat ergeben, dass die Pakete hier im Ort abhandengekommen sein müssen, und man will mir einen Vorgesetzten schicken, der mir auf die Finger schaut.«
»Ich verstehe«, sagte die Witwe Appelhoff. »Bei Kurold nimmt man offenbar an, die Schuld für die fehlenden Sendungen liege bei Ihnen.«
»Eben das fürchte ich auch. Das bringt mich in eine furchtbare Zwickmühle!«
Er schilderte sein Dilemma, in das er hineingeraten war. Im Mühlenweg gab es einen Hund, den Rex vom alten Dirk Menken, dessen Zwinger nicht richtig schloss und der darum gern ausbüxte. Besonders hatte er es auf Lieferanten aller Art abgesehen und damit auch auf Malte John.
»Das Tier beißt zwar nicht, aber es springt um einen herum und man muss es weglocken, indem man Hundesnacks zurück aufs Grundstück wirft. Meistens kümmert sich Sylvia drum, sobald sie ihn bellen hört. Sie wohnt ja neben dem alten Menken. Doch es kam schon vor, dass ich auf mich allein gestellt war.«
»Und ich nehme an, in solch einer Situation hätte man aus Ihrem Beiwagen ein Paket klauen können, weil sie mit Rex beschäftigt waren?«
»Ganz richtig. Das ist freilich sehr unprofessionell von mir und auch die Paketverwahrung ist nicht die beste. Aber deswegen habe ich ja den Nebenjob angenommen, damit ich Geld für eine Aufrüstung zusammenkriege. Wenn ich die Sache mit dem Hund zugebe, feuert man mich wegen Nachlässigkeit. Wenn ich sie verschweige, könnte man hingegen mich für den Dieb halten und dann bin ich erst recht die Stelle los. Sie kennen sich mit kniffligen Fällen viel besser aus als alle anderen, Frau Appelhoff. Was soll ich tun?«
Die Witwe Appelhoff fühlte sich von Maltes Kompliment geschmeichelt. Sie dachte kurz nach und schlug dann vor, dass er pro-aktiv handeln müsse: Wenn sein Beiwagen beraubt worden war, müsse er zur Polizei gehen und Anzeige gegen unbekannt erstatten. Die würden das Moped nach Spuren untersuchen, Zeugen befragen und vielleicht sogar Hinweise am Tatort finden.
Doch zur Polizei gehen, eben das wollte Malte John nicht. Die Witwe Appelhoff war darüber überrascht, fand sie ihren eigenen Vorschlag doch einleuchtend und sehr überzeugend. Womöglich schmälerte die Erkältung ihre Selbstwahrnehmung? Der Postbote wollte jedenfalls nicht mit der Sprache herausrücken, warum er vor einer Anzeige zurückschreckte.
»Wenn Sie nicht vollkommen offen zu mir sind, kann ich Ihnen leider nichts Weiteres raten«, sagte die Kranke.
»Danke trotzdem für Ihre Mühe«, erwiderte Malte John, »und entschuldigen Sie vielmals die Störung. Ich werde auf jeden Fall über Ihren Vorschlag nachdenken, vielleicht… Na ja, gute Besserung, ich muss jetzt…«
Und er verschwand. Die Witwe Appelhoff stützte nachdenklich den Kopf in die Hände und merkte dabei, wie ihre Wangen glühten.
»Jetzt werde ich auch noch fiebrig«, murrte sie, »wie üblich bei einer Krankheit. Liegt man ruhig im Bett, bricht sie erst richtig aus!«
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