Bernharda May - Ein halbes Dutzend Mord

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Acht Personen sind zu einem Krimi-Dinner geladen. Vom Thema des Spiels inspiriert, beginnen sie einander wahre Mordgeschichten zu erzählen. Die einzige Bedingung dabei: Alle Fälle müssen binnen 24 Stunden gelöst worden sein.
Die heitere Gesprächsrunde wird getrübt, als in unmittelbarer Nähe ein Mordanschlag verübt wird – und einer von den acht Spielern der Täter sein muss…

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1. Maiglöckchen

Cornelia und Hans-Georg Augustin hatten zum Krimi-Dinner geladen. Während sie das Spiel »Der Tote in der Taucherglocke« besorgt und für ihren Mann und sich die passenden Kostüme geschneidert hatte, war es an ihm gewesen, die Einladungen zu verschicken.

»Wir müssen unbedingt zu acht sein«, hatte Cornelia während der Vorbereitungen betont. »Sonst funktioniert das Ganze laut Spielanleitung nicht. Wir laden auf jeden Fall die Voigts ein. Wilma und ich haben erst letztens beim Frauen-Aktiv über solche Ratespiele gesprochen und sie schien sehr begeistert. Ihren Bruder wird sie gewiss überreden können.«

Ihr Ehemann hatte bezweifelt, dass Bert Voigt – ein steifer Hauptfeldwebel im Ruhestand – Gefallen an einer fingierten Mördersuche finden würde; erst recht, wenn sich die Teilnehmer dazu verkleiden mussten. Aber tatsächlich saßen heute Abend beide Voigts am Tisch und spielten mit.

Des Weiteren waren Cornelias Großneffe Ronald und seine Freundin als Gäste vorgesehen gewesen, doch weil die Beziehung noch vor dem Krimi-Dinner in die Brüche gegangen war, hatte er stattdessen seinen Bekannten Kay mitgebracht. Cornelia war davon nicht begeistert, denn Kay war ihr höchst unsympathisch. Ihrer Meinung nach strengte er sich zu sehr an, auf andere witzig zu wirken, und hatte die unangenehme Art, ständig seine Augenbrauen abschätzig nach oben zu ziehen. Dass er freiwillig und sogar mit Begeisterung die Frauenrolle annahm, die ursprünglich Ronalds Freundin zugedacht war, fand Cornelia sehr suspekt. Glücklicherweise deutete Kay das Geschlecht seiner Rolle nur über etwas Schmuck an und hatte davon abgesehen, seinen fülligen Körper in ein Abendkleid zu zwängen.

Die Gastgeberin selbst hatte eine blonde, hochtoupierte Perücke aufgesetzt, ihr Gesicht im Stil der späten fünfziger Jahre geschminkt und genoss sichtlich ihren Auftritt als mondäne Großstadtdame. Mit ihrer Spielfreude steckte sie die anderen Teilnehmer schnell an. Selbst Hauptfeldwebel a.D. Bert Voigt schien sich wohl zu fühlen, wobei das auch an der angenehmen Rolle des zurückhaltenden Museumswärters liegen konnte. Die hatte ihm Hans-Georg Augustin wohlweislich zugeteilt, weil sie kein besonderes Kostüm verlangte.

In dem kleinen Ort, wo die Augustins in einem geräumigen Jagdhaus lebten, hatte sich kein weiteres Paar gefunden, das sich für ein Krimi-Dinner interessiert hätte. Deshalb hatte Hans-Georg zwei Gäste der gegenüberliegenden Pension eingeladen, die sich dort unabhängig voneinander ein Zimmer gemietet hatten. Cornelia Augustin war schier begeistert, als sich herausstellte, dass der ältere der beiden Fremden ausgerechnet ein ehemaliger Kriminaldirektor war. Er hieß Henry Herrmann, hatte ein dickes Gesicht mit Knollennase und blickte derart gutmütig drein, dass man ihn schnell ins Herz schloss.

»Als Polizeichef können Sie unseren gespielten Fall sicher als Erster lösen – außer natürlich, Sie sind der Mörder, haha«, hatte die Gastgeberin zu Beginn des Abends gescherzt. »Was führt Sie überhaupt in unseren bescheidenen Ort?«

»Ein Kongress der Kriminalpolizei«, hatte die Antwort gelautet, »auf dem ich einen Vortrag über die Organisation der Verbrechensbekämpfung hielt. Das hiesige Tagungszentrum genießt ja bundesweiten Ruhm.«

»Und warum haben Sie sich in der kleinen Pension gegenüber eingemietet und kein Zimmer im Zentrum genommen?«

»Wissen Sie«, hatte Herrmann gestanden, »man möchte im Ruhestand nicht ständig von ehemaligen Kollegen umgeben sein. Deshalb zog ich mich in die Pension zurück. Zu meinem Glück, will ich meinen, denn auf diese Weise bin ich in den Genuss Ihrer Einladung zum Krimi-Dinner gekommen.«

Cornelias Ehemann hatte sich indessen der Urlauberin Judith Strasser angenommen. Man kannte sich bereits vom Sehen, denn sie verbrachte das zweite Jahr in Folge ihren Sommerurlaub im hiesigen Luftkurort. Sie bedankte sich für die Einladung und bedauerte, so kurzfristig kein Kostüm mehr bekommen zu haben. Cornelia half mit einem schwarzen Hut aus ihrer Garderobe aus, der gut zur Rolle der trauernden Witwe passte.

Nun saßen diese acht Personen seit sechs Uhr abends rund um den Esstisch, rätselten und aßen und vergnügten sich außerordentlich. Das Esszimmer war gemäß der Spielanleitung mit vielerlei Krimskrams ausgestattet worden, denn die Szenerie schrieb das Innere eines Museums vor. Lediglich die Taucherglocke samt Toten musste man sich dazu denken.

Nach mehreren Dialogen und Fragerunden, für die alle Spieler kleine Rollenheftchen mit Hinweisen benutzen durften, wurde die Hauptspeise serviert: Bœuf bourguignon mit hausgemachtem Kartoffelpüree an glasierten Möhrchen. Erst danach war es den Teilnehmern gestattet, ihren persönlichen Hauptverdächtigen auf einen Zettel zu schreiben, bevor anschließend die Spielanleitung den Fall offiziell auflöste. Obwohl die meisten auf die von Judith gespielte trauernde Witwe getippt hatten, stellte sich die mondäne Großstadtdame als die wahre Täterin heraus. Die Gastgeberin amüsierte sich prächtig darüber, die Mörderin zu sein.

»Ich gebe zu, ich schwankte zwischen der Witwe und dem Museumswärter« – dabei zwinkerte sie Bert Voigt zu – »denn in Krimis ist ja häufig entweder der Ehepartner oder die am wenigsten verdächtige Person der Täter. Aber ich bewundere Sie, Herr Kriminaldirektor, dass Sie Ihre Niederlage so gut weg stecken. Auch Sie tippten verkehrt.«

Henry Herrmann lächelte und machte mit den Händen eine entschuldigende Geste.

»Auch ein Fachmann kann mal irren. Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass das Spiel seinem Unterhaltungswert zum Trotz eine sehr unrealistische Szenerie entwirft. Wie hat beispielsweise die Täterin den Toten ungesehen in die Taucherglocke hieven können?«

»Immerhin wird sie in der Einführung als kräftige Frau beschrieben, die einst als Schlachterin gearbeitet hatte«, warf Ronald dazwischen. »Das hätte uns vielleicht ein Hinweis sein sollen.«

»Es gibt Berufe, in denen Frauen besser nicht arbeiten sollten«, meinte der ehemalige Hauptfeldwebel. »Die Schlachterei ist für eine Dame zu rau und grob.«

»Ich fürchte, Ihr Verständnis von Frauen ist recht altmodisch«, kicherte Kay frech, »und zudem verklärend. Zart und schwach sind die wenigsten Damen, die ich kenne.«

»Ach, mein Bruder ist eben ein Junggeselle«, winkte Wilma Voigt ab. »Er hat da seine eigenen verstaubten, realitätsfernen Ansichten.«

Bert Voigt errötete, schwieg aber.

»Apropos Realismus«, griff der Gastgeber das gefallene Stichwort auf, »in diesem Spiel wurde ein Mordfall innerhalb weniger Stunden gelöst. Ich kenne mich in der Polizeiarbeit nicht aus, aber wir haben heute einen Experten unter uns. Herr Herrmann, für eine echte Aufklärung braucht es im Polizeialltag doch sicherlich länger?«

Der ehemalige Kriminaldirektor bemerkte die vielen Augenpaare, die auf ihn gerichtet waren. Er hatte mit Fragen wie dieser gerechnet, denn immerhin saßen um ihn herum ausschließlich Liebhaber von Kriminalliteratur. Wer sonst würde eine Einladung zum Krimi-Dinner so bereitwillig annehmen?

»Nun«, begann er vorsichtig, »natürlich ziehen sich die Ermittlungen meist arg in die Länge. All die Vernehmungen und Überprüfungen müssen ja nicht nur durchgeführt, sondern anschließend auch ausgewertet werden.«

»Aber manchmal dauert es tatsächlich nur wenige Stunden«, unterbrach ihn Kay. »Ronald, erinnerst du dich an den Vorfall vor einem Jahr?«

Bevor Ronald antworten konnte, meldete sich Cornelia Augustin zu Wort:

»Wenn ich so überlege, kennen auch wir einen Fall, Hans-Georg, der innerhalb von vierundzwanzig Stunden aufgeklärt werden konnte. Weißt du noch damals, als wir im Erzgebirge waren?«

»Das kann man kaum einen ernstzunehmenden Mordfall nennen, Schatz«, entgegnete ihr Gatte und wandte sich wieder dem Kriminaldirektor zu. »Ich fürchte, Herr Herrmann, wir haben Sie nicht ausreden lassen.«

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