Genau: Ich soll mich für die Stelle als Kindermädchen bewerben und Jonas eine gewisse Susan Hunz schmackhaft machen, die ebenfalls einen gleichaltrigen Sohn hat.
Tiere und Kinder sind der Alptraum eines jeden Cupidas. Und mich erwarten gleich zwei, und das, obwohl wir Engel gar nicht schlafen.
DAS CHAOTISCHE BÜCHERREGAL
Die junge Frau liegt immer noch schlummernd in ihren Kissen. Vor ihrem Bett türmen sich Klamotten. Nach dem Turm zu urteilen, der aus ihrer Jeans, in der ihre Höschen und Socken stecken, ihrem Oberteil und dem BH besteht, muss sie aus dem Zeug herausgestiegen und geradewegs ins Bett gefallen sein.
Ich stalke gerade die letzte der drei Bewerberinnen, die Jonas heute Mittag zum Vorstellungsgespräch als Tagesmutter eingeladen hat. Obwohl diese hier riecht wie eine Schnapsleiche, was sicherlich von den tausend Cocktails der vergangenen durchgefeierten Nacht herrührt, ist sie womöglich meine größte Konkurrenz. Momentan sieht sie zwar mit der grausigen Fünfzehn-Stunden-Schlaf-Frisur, dem verschmierten Kajal und Lippenstift nicht danach aus, aber im Normalzustand ist sie bestimmt ein heißer Feger.
Vater und Sohn würden sich womöglich für sie entscheiden, was ich verhindern muss, um selbst die Stelle zu bekommen. Damit ich freie Bahn habe und Jonas mit Susan zusammenbringen kann.
Die anderen zwei Bewerberinnen stellen keine Gefahr für mich dar. Aber um auf Nummer sicher zu gehen, werde ich bei ihnen ebenso eingreifen müssen. Abgesehen davon, dass ich den Job will, wären die zwei Kröten das Schlimmste, was Jonas‘ Sohn Max zustoßen könnte. Die verkörpern das typische Klischee einer Schreckschraube, wie man sie aus Kinderfilmen kennt.
Die Kundschafter haben, auf die Anweisung meines Operators Bellamy, herausgefunden, dass eben jene drei Frauen ein Gespräch mit Jonas haben würden. Dieser hat die Termine mit ihren Namen in seinem Kalender vermerkt, weswegen ich die Damen aufsuchen und inspizieren konnte.
Eine hat sich als ausgezehrte, verbitterte Ziege herausgestellt, die irgendwann einmal einen Stock verschluckt haben musste. Zu meinem Verdruss durfte ich ihr durch den Stadtpark hinterherjagen, weil sie wohl für einen Marathon trainierte. Ihre Wohnung war spartanisch eingerichtet und erinnerte eher an eine Gefängniszelle. Nichts Farbiges, nichts, was auch nur den Hauch von gute Laune oder Freude verbreiten konnte, war darin zu finden. Ein strenger Trainingsplan, der an ihrem Kühlschrank hing, sagte mir, dass diese unerbittliche Selbstdisziplin ein wesentlicher Bestandteil ihres Charakters sein musste.
Die andere Bewerberin war eine ältere korpulente Frau, die an Kurzatmigkeit litt. Dass sie Max nicht hinterherjoggen konnte, sondern stattdessen aus dem letzten Loch pfeifen würde, war nur eins ihrer Probleme. In ihrem Haus habe ich nämlich alles penibel sortiert vorgefunden. Einfach alles war nach Farben, Alphabet oder Größe geordnet – von den Tassen bis hin zu den Stecknadeln. Dem Anschein nach hat die Dame eine Zwangsneurose.
Entscheidet sich Jonas für eine von den Zweien, wird Max das Lachen vergehen. Denn diese Damen können einen Jungen in seinem Alter weder verstehen noch fördern oder bändigen, davon bin ich überzeugt. Sohn und Vater können froh sein, dass ich ihnen die Entscheidung abnehmen werde.
Per Telefon habe ich mich bei Jonas um die Stelle als Tagesmutter beworben und angegeben, sein Zeitungsinserat gelesen zu haben. Wir unterhielten uns kurz und vereinbarten für heute Nachmittag einen Termin. Das Zuckerschnittchen hat eine unglaublich männliche Stimme, bei der einem die Knie weich werden, und eine ausgesprochen zuvorkommende Art.
Wenn Susan also nicht lesbisch oder halbtot ist, wird sie den Kerl sofort bespringen, sobald er eindeutige Signale aussendet. Also – ich würde es so machen … wenn ich diejenige wäre, welche … Aber – die bin ich ja nicht.
Irgendwie muss ich bis mittags die Zeit totschlagen, denn jetzt würde ich noch nichts gegen die drei Frauen unternehmen, sondern erst, wenn ich die größte Wirkung erzielen konnte.
Ich entschließe mich dazu, die schlafende Schönheit zu verlassen und einigen meiner langjährigen Klienten einen Besuch abzustatten.
Dem Himmel sei Dank, ist bei denen noch alles in Butter. Auf den ersten Blick kann ich kein Eristen-Eingreifen erkennen. Etwas beruhigter als zuvor hinterlasse ich bei den Paaren kleine Stupser, damit sie sich ihrer Liebe zueinander wieder bewusst werden.
Leider halten die Menschen vieles für selbstverständlich, ihre Partner, Freunde oder Familien, deren Zuneigung, sogar das unfassbare Glück, ihre Liebe überhaupt gefunden zu haben. Oft begreifen die Leute erst, dass sie das Beste ihres Lebens in Händen hielten, wenn es unwiederbringlich verloren ist.
Deswegen lasse ich bei der einen Ehefrau das Lied im Radio spielen, bei dem sie zum ersten Mal mit ihrem Mann tanzte und er ihr dabei auf die Füße trat, weswegen sie ihn nicht vergessen konnte. An ihrem Schmunzeln sehe ich, dass sie sich daran erinnert.
Einem der Männer schmuggele ich zwischen die Aufgaben seiner elektronischen To-do-Liste, die seine Frau ihm immer per Handy schickt, ein »Mich heute Nacht verwöhnen«. Nachdem er es gesehen hat, lösche ich es wieder. Selbst wenn er sie darauf später ansprechen und sie es kichernd abstreiten sollte, so etwas geschrieben zu haben, um die beiden wird es schon geschehen sein.
Ja, manchmal braucht man ganz wenig, um viel zu erreichen. Manchmal bedeutet nur ein kurzer Satz, nur eine kleine Geste dem Gegenüber die ganze Welt.
Im Unsichtbarkeits-Modus mache ich mich erneut zur Marathon-Ziege auf, die sich in ihrer Küche gerade ein Vitamin-Drink mixt, was mir eine günstige Gelegenheit bietet, ihr die Tropfen zu verabreichen, die mir Bellamy speziell für diesen Fall besorgt hat.
Natürlich könnte ich ihr den gesamten Inhalt des Fläschchens per Willen in das Getränk mischen, aber das wäre vielleicht schädlich für ihre Gesundheit und ein katastrophaler Fehler, der einem Cupida und auch einem Eristen nie unterlaufen darf.
Es ist das Erste und Wichtigste, was wir alle in unserer Ausbildung lernen: Unser Handeln darf niemals einen Menschen körperlich verletzen. Wenn das passiert, prüft der Legionsleiter, das ist bei den Cupidas Phileas und bei den Eristen Nyra, inwieweit es fahrlässig oder willentlich geschah. Ist Letzteres der Fall … verschwindet man. Wortwörtlich. Wir lösen uns auf. Dieses Vergehen ist das Einzige, was unserer Existenz ein Ende setzen kann. Und ja, das kommt öfter vor, als man denkt. Entweder geschieht es in aller Öffentlichkeit oder heimlich, still und leise. Plötzlich ist ein altbekannter Cupida weg. Zack!
Woher Phileas und Nyra die Gewissheit haben, ob der Mensch absichtlich von einem verletzt wurde oder nicht, kann ich nur vermuten. Auch darüber, woher die Aufträge und Berichte stammen, die zum Teil Zukunftsvoraussagen beinhalten, welche wir Engel nicht treffen können, kann ich lediglich spekulieren.
Ebenfalls vermag niemand von uns in das Herz eines Eristen, Cupidas oder Menschen zu sehen, wie auch keiner von uns die Gedanken eines anderen manipulieren kann. Was ja logisch ist, denn sonst bräuchten wir den ganzen Zinnober gar nicht veranstalten. Genauso wenig können wir in die Zukunft oder die Vergangenheit reisen. Das ist einerseits echt schade, aber andererseits würde vermutlich das totale Chaos ausbrechen.
Naja, egal, ich muss jetzt bloß irgendwie den Deckel des Mixers anheben, um die Droge wohldosiert in das Getränk zu bekommen. Deshalb warte ich den geeigneten Moment ab, bis die angehende Iron-Man-Gewinnerin sich wegdreht. Den Deckel, wie von Geisterhand, vor ihrer Nase schweben zu lassen, wäre wahrscheinlich der Auslöser für einen fürchterlichen Schreikrampf, der jetzt völlig kontraproduktiv wäre. Abgesehen davon, soll unsere Existenz den Menschen verborgen bleiben. Nicht auszudenken, auf was für Ideen die kommen würden, wenn sie von uns wüssten.
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