„Eine Kleinigkeit fehlt noch, finde ich.“ Meera suchte auf dem Gewürzregal nach Zucker und fügte etwa eine halben Teelöffel braunen Rohrzucker hinzu.
„Zucker?“, wunderte sich Nilesh.
„Ja. Zucker hebt die Säure der Tomate auf und gibt ihr dadurch mehr Aroma. Außerdem nimmt er die Bitterkeit, die man ganz leicht hinten am Gaumen schmecken konnte.“
Nilesh probierte erneut und freute sich. „Das gibt es doch gar nicht. Das ist ein Riesenunterschied.“
Auch Meera probierte ein weiteres Mal und war endlich zufrieden. Nilesh winkte Bikram herüber und reichte ihm eine Probierportion.
„Es riecht wunderbar, leicht kohlig, aber angenehm. Hm…, und es schmeckt perfekt. Sehr gut gewürzt. Sehr gut abgeschmeckt. Obwohl es ein einfaches Gericht ist, ist es sehr fein. Ihr seid ein gutes Team.“
Meera sah Nilesh an. Er wirkte glücklich und stolz. „Du bist ein Naturtalent“, lobte er sie schon wieder.
„Du übertreibst“, wiegelte sie ab. Es war ihr unangenehm, gelobt zu werden.
„Übertreibe ich, Bikram?“
„Nein, ganz und gar nicht. Sie kochen sehr gut, Misses Meera. Mit Technik, Struktur, Geschmack und Herz.“
„Siehst du! So etwas hat Bikram von mir noch nie gesagt.“
Bikram ging lachend zurück an seinen Arbeitsplatz, und Meera stand allein mit Nilesh da. Nun, da die Arbeit getan war, war ihr die Nähe, die Intimität zwischen ihnen plötzlich wieder unangenehm. Ihr Fluchtimpuls regte sich. Sie fürchtete, er könnte sie erneut umarmen. Deshalb machte sie sich daran, ihren Arbeitsplatz akribisch aufzuräumen.
„Das brauchst du nicht. Das mache ich gleich.“
Hatte er sie etwa durchschaut? „Eine echte Köchin räumt ihren Arbeitsplatz immer auf.“
„Aber nicht, wenn die Köchin eigentlich Urlaub hat.“
„Stimmt, ich habe Urlaub. Wie eigenartig.“ Sie lachte. „Okay, dann lasse ich den Koch, der leider keinen Urlaub hat, jetzt mit seiner Arbeit allein. Wann kann ich dieses hervorragende Spargoli-Gericht denn auf dem Büffet finden, Chef Nilesh?“
Nilesh sah auf die Uhr. „In einer halben Stunde.“
Meera verabschiedete sich schüchtern. Sie hatte das Gefühl, dass alle Köche und Gehilfen Nilesh und sie genau beobachteten. Sie nahm kurz seine Hand, hielt sie fest gedrückt und sagte leise danke. Als sie seine Hand loslassen wollte, drehte er seine blitzschnell um, griff ihr Handgelenk und hielt sie zurück. Er sah ihr tief in die Augen, als wäre er mit ihr allein. „Ich danke dir , Meera. Das war der schönste Morgen, den ich seit Jahren hatte. Du bist wunderbar! Ich genieße jede Minute mit dir.“
Sie errötete und blickte sich um. Die anderen Köche taten zumindest so, als hätten sie nichts bemerkt. Obwohl Meera sich innerlich dagegen wehrte, war dies ein schöner, ein sehr glücklicher Moment. Sie spürte Nileshs aufrichtige Zuneigung. Etwas in ihr genoss seine Aufmerksamkeit und Nähe. Aber da war auch noch ein anderer Teil von ihr, der genau diese Aufmerksamkeit und Nähe wie die Hölle fürchtete. Es war gefährlich, einem anderen sein Herz zu öffnen, dessen Liebe anzunehmen und die eigene Liebe zuzulassen, hatte sie gelernt. Ihr unterbewusstes Frühwarnsystem schlug heftig Alarm.
∞
So viel wie heute, hatte Meera ewig nicht erlebt und doch wusste sie, dass sie keine normale Müdigkeit überfiel sobald sie in ihrem Zimmer war, sondern die altbekannte Fatigue. Sie legte sich matt auf ihr Himmelbett, deckte sich mit einem leichten Baumwolltuch zu und döste fast augenblicklich ein.
Ein Stunde später wachte sie auf und sah sich in ihrem Zimmer um, noch immer viel zu müde, um aufzustehen. „Ich kann doch den Rest dieses schönen Tages nicht einfach verschlafen“, dachte sie. Doch ihr Körper war anderer Meinung, und sie schlief wieder ein.
Das nächste Mal wachte sie gegen halb vier am Nachmittag auf. Sie hatte plötzlich großen Durst, trank einen Schluck Wasser und kochte sich einen Tee, der vielleicht die Lebensgeister in ihr wieder zu wecken vermochte, hoffte sie. Sie saß im Bett und trank den heißen Tee mit Ingwer in kleinen Schlucken. Fast unmittelbar begann der Ingwer seine wärmende Wirkung zu entfalten, und Meera fühlte sich ein bisschen wacher und klarer im Kopf. Ihr Körper hingegen schien noch immer bleischwer und müde. Das war genau der Zustand zwischen Wachen und Schlafen, in dem es die Erinnerungen am leichtesten hatten, sie zu überfallen und zu überfluten. Sie war einfach zu schläfrig, um etwas dagegen zu tun.
Mit einem Mal war ihr, als drehe jemand das Rad der Zeit einfach zurück und immer weiter zurück; fünfzehn Jahre bis zu dem Tag, an dem sie Janaka das erste Mal begegnet war. Drei Wochen nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Damals hatte sie noch Britta geheißen, wie ein anderer Mensch in einem anderen Leben.
Kati, eine gute Freundin, hatte ihr zum Geburtstag den Eintritt zu einem Satsang von Janaka geschenkt. Sie hatten beide keine Ahnung, was ein Satsang eigentlich war und was sie dort erwartete. Meeras Freundin studierte Psychologie und hatte einen Aushang am schwarzen Brett in der Uni gelesen. Auf Meeras Geburtstagskarte hatte sie geschrieben: „Vielleicht hat er Antworten auf die vielen Fragen, die wir uns in unseren herrlichen, nächtlichen Gesprächen bei Vino Rosso und Chips selbst nicht beantworten können.“
Anbei lag der Flyer, den sie vom schwarzen Brett geklaut hatte. Darauf stand eigentlich nicht viel.
„Janakananda bedeutet Erschaffer der Glückseligkeit. Diesen Namen erhielt Janaka, wie sich der deutsche Lehrer westlicher und indischer Spiritualität nennt, von Shiva und seinem indischen Guru, Sri Adideva, im Jahr 1998. Sein Lehrer war es auch, der dem jungen, suchenden Deutschen das höchste Selbst oder das reine Sein enthüllte und ihn kurz darauf als eigenständigen Lehrer und Fortführer der Tradition zurück nach Deutschland schickte, um die Spiritualität der Neuen Zeit mit der zeitlosen indischen Spiritualität zu verbinden und westlichen Menschen zugänglich zu machen. Janaka erfüllt damit seine Mission: anderen Suchenden den Weg zur Seele zu zeigen, die er selbst mit Hilfe verschiedener Lehrer fand. Seine Organisation, die Menschen aus vielen Ländern der Welt anzieht, heißt deshalb Atma Jivan, Seele des Lebens. Janaka lebt in Deutschland, in einem kleinen Ort im Odenwald in seinem Ashram, Pavitra Nagar, mit Schülern und Sannyasins nach alter indischer Tradition.“
Meera hatte kein Wort verstanden. Auch das Bild Janakas, das ihn an einem Fluss in Meditationshaltung mit geschlossenen Augen zeigte, sprach sie nicht besonders an. Doch die Worte ihrer Freundin lösten die Hoffnung in ihr aus, dass es vielleicht wirklich einen Menschen geben könnte, der ihre drängenden Fragen über sich und das Leben, über Glück und Unglück, Leben und Tod, beantworten konnte; einen Menschen, der ihr zeigen konnte, wie man glücklich lebte, wie man Frieden mit sich und der Welt schloss. Vielleicht konnte das nur jemand, der in einem anderen Land etwas gefunden hatte, was in Deutschland nicht zu finden war. Vielleicht kannte dieser Janaka ja wirklich das Geheimnis der menschlichen Seele, das sich ihr einfach nicht erschloss. Und wenn nicht, dann hätten sie und ihre Freundin einen lustigen Abend zusammen und sicher viel, über das sie hinterher lästern, lachen oder diskutieren konnten. Wie naiv sie damals gewesen war.
Der Satsang fand in einem alten Kino statt, das inzwischen für Veranstaltungen aller Art genutzt wurde. Die Leute wirkten auf Meera ein wenig alternativ, doch die meisten waren jung und schienen sehr aufmerksam und interessiert. Im Hintergrund lief chillige Housemusik mit indischem Gesang. Das passte gar nicht zum Ambiente und den Leuten, fand Meera, doch die Musik beruhigte und entspannte sie sehr schnell und sehr tief. Meera war noch mit dem Ausschalten ihres Handys beschäftigt, als sie eine starke Welle der Energie im Raum spürte. Sie blickte neugierig auf, Janaka direkt in die Augen. Er stand schweigend auf der Bühne und strahlte eine verzaubernde Ruhe und Tiefe aus. Er hielt ihren Blick mit seinen leuchtenden grün-blauen Augen und nickte kurz, als würde er sie ganz persönlich grüßen und schon sehr, sehr lange kennen. Dann setzte er sich auf einen niedrigen Sessel in der Mitte der Bühne, kreuzte die Beine und deckte sich mit einem Kashmirschal zu. Meera war wie elektrisiert. Ihr Herz dehnte sich in alle Richtungen aus, in ihrem Bauch kribbelte es und kurz wurde ihr sogar ein bisschen schwindelig. Es war paradox. Von diesem Janaka schien eine ungeheure Energie auszugehen, obwohl er so ruhig und in sich gekehrt wirkte. Die Musik spielte weiter, und Janaka blickte still und aufmerksam in die Menge. Es waren mehr als hundert Leute gekommen, schätzte Meera. Einige lächelte er an, andere begrüßte er mit vor der Brust zusammengefalteten Händen, als würde er sie bereits persönlich kennen. Manche brachen gleich darauf in Tränen aus. Meera hatte keine Ahnung, was hier geschah. Es war seltsam und schön zugleich.
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