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„Ein Morgen war’s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel O Tahiti, 2 Meilen vor uns sahen... ein vom Lande wehendes Lüftchen führte uns die erfrischendsten und herrlichsten Wohlgerüche entgegen und kräuselte die Fläche der See. Waldgekrönte Berge erhoben ihre stolzen Gipfel in mancherley majestätischen Gestalten und glühten bereits im ersten Morgenstrahl der Sonne. Vor diesen her lag die Ebene, von tragbaren Brodfrucht-Bäumen und unzählbaren Palmen beschattet... Noch erschien alles im tiefsten Schlaf; kaum tagte der Morgen und stille Schatten schwebten noch auf der Landschaft dahin. Allmählig aber konnte man unter den Bäumen eine Menge von Häusern und Canots unterscheiden, die auf den sandichten Strand heraufgezogen waren... Nunmehro fing die Sonne an die Ebene zu beleuchten. Die Einwohner erwachten und die Aussicht begonn zu leben... Es währete nicht lange, so sahe man das Ufer mit einer Menge Menschen bedeckt, die nach uns hinguckten, indessen daß andere... ihre Canots ins Wasser stießen und sie mit Landes-Producten beladeten... Die Menge von Canots, welche zwischen uns und der Küste ab- und zu giengen, stellte ein schönes Schauspiel, gewissermaßen eine neue Art von Messe auf dem Wasser dar. Ich fing sogleich an durch die Cajütten-Fenster, um Naturalien zu handeln, und in einer halben Stunde hatte ich schon zwey bis drey Arten unbekannter Vögel und eine große Anzahl neuer Fische beysammen... Die Leute, welche uns umgaben, hatten so viel Sanftes in ihren Zügen, als Gefälliges in ihrem Betragen. Sie waren-“
„He, hier ist er ja. Leute, kommt her, ich hab’ ihn!“ Das war unverkennbar Rudolphs nur zu vertrautes Organ, das ihn da mitten in der schönsten Lektüre unterbrach. „Wie ich’s mir gedacht hatte: Da sitzt der Streber mit einem Buch, und“ - er verstellte seine Stimme kindisch-spottend - „das hat der liebe Herr Lehrer seinem lieben Musterschüler geschenkt!“ - „Gar nicht geschenkt - geliehen hat er’s mir!“ protestierte Johannes, „Und außerdem geht dich das überhaupt nichts an!“ - „Stimmt, kann mir ganz egal sein. Aber jetzt musst du aufhören und mitkommen. Wir haben dich schon überall gesucht.“ Inzwischen hatten sich noch ein paar andere Kinder eingestellt, und alle standen nun um ihn, der immer noch auf seinem Stein saß, herum. „Ja, Hannes, komm, wir wollen noch mal versuchen, auf die Mauer zu klettern, und dafür brauchen wir jeden Mann!“
Oh, das war etwas anderes: Wenn man der Mauer mal wieder zu Leibe rückte, dann durfte er wirklich nicht fehlen! Er klappte das Buch zu und schob es unter den Busch - später könnte er ja noch mal wiederkommen und weiterlesen -, sprang auf und schloss sich den Kameraden an. Das Vorhaben hier war ja von genau derselben Entdeckerneugier und demselben Pioniergeist getragen, mit denen die Lektüre dieses Buches ihn impfte.
Im Gehen erklärte man ihm, man wolle eine ganz neue Methode ausprobieren. Die hätten Karl und Rudolph sich einer Truppe von Zirkusleuten abgeschaut, die sie beim Trainieren beobachtet hätten. Man wolle eine Art Menschenpyramide aufbauen, unten die Größten und Stärksten, nach oben die Kleineren und Leichteren, und einer müsse dann das fehlende Stück mithilfe der Efeu- und Weinranken erklettern, die an bestimmten Stellen dieses Jahr sehr dicht, stark und weit nach oben wüchsen.
In einiger Entfernung von der Mauer blieben sie zunächst einmal stehen und blickten dem Objekt ihrer Herausforderung entgegen; und tatsächlich schien es von hier durchaus zu bewältigen: Wenn man sich ein paar Kinder übereinander dachte, dann musste der oberste an eine Stelle heranreichen, wo der Pflanzenbewuchs kräftig genug schien, um wie ein Baum erklettert zu werden, und von dessen höchsten Zweigen schien der Abstand bis zum oberen Rand gar nicht mehr groß.
Als sie dann am eigentlichen Ort des Geschehens ankamen, hatten sich dort so viele Nachbarskinder eingefunden, wie man selten auf einem Fleck zusammen sah. Man hatte wirklich alle herbeigetrommelt, derer man irgendwie hatte habhaft werden können. Ein paar hatten auch schon drei, vier Küchentische aus verschiedenen Häusern herbeigeschleppt und so dicht wie möglich am Fuß der Mauer in eine Reihe aneinandergestellt, um schon mal einen gewissen Vorsprung an Höhe zu gewinnen. Nun teilte man die Anwesenden und eifrig auf den Beginn der Aktion Wartenden in verschiedene Gruppen ein, je nach Alter, Größe, Geschicklichkeit, und dann kletterten die ersten sechs Jungs auf die Tische und stellten sich mit dem Rücken zur Mauer auf. Als dabei die Tische bereits bedenklich ins Schwanken kamen, rief Rudolph, der zu dieser ersten Gruppe gehörte, aber anscheinend auch die Leitung des Unterfangens übernommen hatte, die Mädchen mögen sich auf die Tischränder setzen oder sich so dagegen lehnen, dass sie stabil blieben. Und ein paar von ihnen sollten den jeweils nächsten Kletterern Hilfestellung leisten, halten und schieben und aufpassen, dass keiner fiele. Danach kamen die nächsten an die Reihe, zuerst auf die Tische zu steigen und dann irgendwie zu versuchen, ihren Kameraden auf die Schultern zu klettern. Das erwies sich allerdings schon jetzt als gar nicht so einfach. Doch mithilfe der Mädchen und der Jungen der ersten Reihe, die ihnen Baumleiter machten, klappte es nach einigem Probieren, so dass nun tatsächlich unten auf den Tischen sechs und auf deren Schultern fünf Buben standen und sich krampfhaft an den Zweigen der Kletterpflanzen oder an der Mauer selbst hielten.
„Jetzt die nächsten!“ rief Rudolph. Sehr zögerlich machten sich diesmal vier Jungs daran, die Tische zu erklimmen, die zum Glück dank der Mädchen fest genug standen. Dann sahen sie skeptisch und verzagt nach oben, und einer von ihnen rief plötzlich: „Die Mauer ist höher geworden! Ich schwör’s euch, die ist gewachsen seit vorhin!“
„Ach was“, verwies ihn Rudolph, „du spinnst doch! Wie soll die denn gewachsen sein? Nun stellt euch nicht so an und macht schon voran!“
„Das wird nie was!“ meinte Johannes ungläubig.
„Doch, es muss klappen. Bei den Zirkusleuten ging es doch auch“, widersprach Rudolph.
„Na, die werden ja wohl auch ein Weilchen geübt haben!“
„Jetzt haben wir angefangen, jetzt ziehen wir’s auch durch!“ befahl Rudolph, und der erste Knabe wurde geschoben, gehoben, gezogen, und der nächste, und noch einer, und obwohl die Konstruktion öfter bedenklich wackelte, bekam man es irgendwie hin, und wer einmal oben war, konnte sich durch vorsichtiges Zurücklehnen gegen die Mauer hin einigermaßen Stabilität verschaffen. Alles hielt vor Aufregung den Atem an.
„Wir müssen eine Reihe weglassen, noch eine schaffen wir nicht. Dann muss der Fritz eben früher mit dem Klettern anfangen.“
Der stand, käseweiß und noch kleiner und schmächtiger in sich zusammengeschrumpft als sonst, ein wenig abseits. „Komm, mach schon, Fritz, wir können so nicht ewig stehen!“
Offensichtlich hatte man Fritz für diese Aufgabe bestimmt, da er zwar klein und leicht, aber doch schon älter war als die anderen Kinder in diesem Format, und man ihm deswegen wohl zutraute, überlegter und koordinierter zu handeln als ein Jüngerer. Das zeugte nun nicht gerade von großer Menschenkenntnis auf Seiten der „Expeditionsleitung“, aber da hatte wohl mehr die Wunschvorstellung Pate gestanden als jede realistische Einschätzung.
Als Johannes hörte, dass Fritz diese waghalsige Klettertour unternehmen sollte, hätte er am liebsten protestiert, aber in seiner Position im Fundament der Pyramide, das sicher nicht mehr ewig würde aushalten können, wollte er eine solche Unruhe und Verzögerung lieber nicht riskieren.
Mit abwechselnden Bitten, Drohungen und Ermutigungen brachte die ganze Gruppe Fritz schließlich dazu, an den Tisch heranzutreten, sich aufhelfen zu lassen, und dann ergriff er zitternd ausgestreckte Hände, zog sich in die Baumleitern empor, trat mal vorsichtig und unsicher, mal ungeschickt und grob im Glauben, das Gleichgewicht zu verlieren, auf Schultern, griff in Haarschöpfe oder umklammerte Hälse seiner Kameraden, die, von zusammengepressten Lippen oder verzerrten Mündern abgesehen, gute Miene zum bösen Spiel machten, alles im Sinne der gemeinsamen Sache. Die Untengebliebenen schrien ihm zu, welche Bewegung er als nächstes ausführen sollte: „linkes Bein nach oben, jetzt rechten Fuß nach rechts“, und so fort.
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