Nun fand Johannes beim besten Willen keinen Vorwand mehr, sich länger hier aufzuhalten und ging langsam und nachdenklich weiter. Was er da alles zu hören bekommen hatte! - als hätte das Seitenfenster eines Schlosses einen Spalt breit offen gestanden und er auf Zehenspitzen einen Blick in Zimmerfluchten prächtiger Salons stibitzt, so hatte er ein paar Momentaufnahmen erhascht, kurze Einblicke in eine fremde Welt, von der er so vollständig abgetrennt war, als lebten diese Menschen jenseits des Ozeans oder auf dem Mond und nicht in derselben Stadt; dennoch spürte er, dass diese Welten miteinander verwoben und voneinander abhängig waren, jedoch auf eine Art, die ihn sich unangenehm hilflos in einer schwachen und ausgelieferten Position fühlen ließ. Wie sie da so selbstverständlich und alltäglich von Riesenprojekten plauderten beim Bier oder Champagner, von Entscheidungen, mit denen sie das Leben hunderter, wenn nicht gar tausender Menschen mitbestimmten! Und während sich die Erwachsenen seiner Welt immer nur den Kopf zerbrachen, woher sie in nächster Zeit die Mittel nehmen sollten, die Bäuche ihrer Familien halbwegs zu füllen und die elementarsten Bedürfnisse an Kleidung und Obdach zu befriedigen, machten die hier sich Gedanken, ob die Erker ihrer neuen Villen von antiken Figuren oder schlichten Säulen gestützt werden sollten und ob sie das Wohnzimmer lieber im Jugend- oder im Empirestil einrichten wollten. Und ihre Söhne: was hatten die nicht für Möglichkeiten! Nicht nur, dass sie ganz von selbst in die einflussreichen Positionen ihrer Väter rücken würden, sie würden auch studieren können, Dinge lernen, Bereiche sich erschließen, die nicht einmal ihren Vätern zu Gebote gestanden hatten; würde nicht der eine schon bald - das musste man sich mal vorstellen! - nach China aufbrechen? Die ganze Welt schien denen offen zu stehen!
Ob wohl nicht doch, allen Widrigkeiten zum Trotz, auch einer wie er wenigstens eine ganz kleine Chance haben könnte, Ähnliches zu erreichen? Wenn er nur fleißig genug lernte - hatte nicht sein Vater immer gesagt, man könne alles schaffen, wenn man es nur stark genug wolle? Zwischen dem Ehrgeiz, dereinst auch zu denen zu gehören, „die mitredeten“ - was immer er sich auch genau darunter vorstellen sollte, aber es klang so wünschenswert - und dem, sein Leben einem packenden Thema widmen zu dürfen, pendelte der innere Aufruhr, den das mitgehörte Gespräch der Honoratioren in Bewegung gesetzt hatte, und unter solchen Gedanken war er die Galerie entlang bis in den Wintergarten an der Rückseite des Gebäudes gelangt, den er bis jetzt noch nicht betreten hatte.
Wie schön es hier war! All die Pracht und beinahe schwülstige Fülle, die in den übrigen Festräumen herrschte, auch die akustische, war hier zurückgenommen, gedämpft und beruhigt: In einer Ecke spielte nur ein Streichtrio ganz leise, zärtliche Hintergrundmusik. Hier war nun keine besondere exotische Kulisse mehr, lediglich eine sommerlich-luftige Atmosphäre gestaltet. Schlanke, sparsam verschnörkelte weiße Säulen und Streben trugen die gläserne Decke; daran hingen mit zarten Blütenkaskaden bepflanzte Ampeln. Auf flachen, von gedrechselten Geländern umgebenen Estraden aus Schiffsholz waren weiß lackierte Gartentische und -stühle mithilfe blühender Stauden in blau-weiß gemusterten Kübeln zu fast intim wirkenden Laubenplätzen arrangiert. Das Schönste aber war sicherlich die Beleuchtung, die mit Hilfe zwischen die Pflanzen und an die Deckenstreben gehängter Lampions den Raum zwar nicht richtig hell machte, ihn dafür aber in eine wunderbar verwunschene Atmosphäre tauchte; aus dem vorherrschenden Dämmer hob sie Lichtinseln heraus, wo maskierte Gesichter, Teile farbenfroher Kostüme und ein paar blütenbesetzte Zweige sich zu hübschen Tableaus zusammenfanden. Hier unterhielten sich die Gäste in zurückhaltendem Ton miteinander; wo hie und da nur zwei beisammen waren, wurde auch wohl gar nicht geredet sondern bloß still und eng aneinandergeschmiegt dagesessen.
Fenster und Terrassentüren, deren weiße Sprossen vom Boden bis zur Decke reichten, schlossen den Raum zum Park hin ab. Hier war Johannes stehen geblieben und schaute hinaus in den Park; auch hier draußen, verteilt in den Zweigen der am nächsten stehenden Bäume, hingen Laternen; so hatte man den Lichtzauber des Interieurs noch ins Freie hinein fortzusetzen und den Übergang zur Wirklichkeit der kalten Winternacht sanft abzufedern gewusst. Sein Blick folgte von Lampion zu Lampion, bis er sich an der undurchdringlichen Schwärze im Hintergrund stieß. Er seufzte tief auf und wollte sich losreißen und umwenden, da zuckte er zusammen: keine fünf Schritte von ihm entfernt, ebenfalls vor einem der Fenster mit dem Blick nach draußen, stand die blaue Gestalt, die er vorhin so gesucht hatte.
Ein Vogelkopf, ein langer weißer, schmal und spitzer Schnabel statt der Menschennase, unbewegt dem Fenster zugewandt, ins Freie starrend. Und ja - oder nein - getäuscht hatte er sich da nicht: dieses Blau gab es nicht, konnte es nicht geben, war völlig ausgeschlossen. Das war ja goldenes Nachtblau! Ein tief dunkles Blau, in dem der Blick hängen blieb wie dort draußen hinter den ferneren Bäumen des Parks; und doch aus Falten und Bauschungen einen warmen samtig-seidigen Glanz sendend - es war wie eine Sommernacht, die alles Licht des Universums oder das Leuchten der Sonne von der anderen Seite der Erde vollständig in sich aufgenommen hatte und nun hier verhalten und geheimnisvoll ausgab. In diesen unwirklichen Farbton war die Gestalt von Kopf bis Fuß gekleidet; ein stoffreiches Cape mit großzügigem Faltenwurf verhüllte den Körper und machte Umfang und Konturen und damit auch das Geschlecht des darunter verborgenen Menschen völlig unkenntlich; das Vogelgesicht war eingefasst von einer ausladenden turbanähnlichen Draperie; und, um dem Ganzen die bizarre Krone aufzusetzen, überragte diese noch eine Art Diadem mit einem Fächer aus prächtigen, zwischen Blau, Grün und Gold changierenden Pfauenfedern, die im leichten Luftzug nickten.
Unvermittelt wandte sich das eindrucksvolle Wesen um, nahm dabei gleichzeitig die Vogelmaske ab, die es, wie sich jetzt erst zeigte, nur an einem Stiel sich vorgehalten hatte, und brachte darunter ein weiteres Maskenantlitz zu Tage: ein makelloses weißes Oval, das Abstraktum eines Menschengesichts, sah den Jungen an - wie ihm schien, mit nur eben der Andeutung eines unveränderlich auf dem Gesicht eingefrorenen Ausdrucks seltsamster Freundlichkeit - ein fein lächelndes Verziehen der Lippen, eine bestimmte Wangenwölbung... Sicher war es ein bloßes Spiel des schwachen Kerzenlichts, wenn sich dies lächelnde Wohlwollen noch flüchtig zu vertiefen schien, als sich die Gestalt nun vollends umwandte und zügig, aber ohne Eile in Richtung des Ausgangs zur Galerie schritt.
Als Johannes wenig später in die Küche zurückkam, standen die Kinder ratlos und betreten um eine vollkommen hysterische Frieda herum. Die rieb und wischte unter Schluchzen und unverständlichem Schimpfen mit einem Lappen von zweifelhafter Reinheit in ihrem Gesicht herum, das von rotgeheulten Augen, rotgerubbelten Backen und roter Lippenstiftschmiere, die sich hartnäckig eher verteilte als wegwischen ließ, schlimm verunstaltet war.
„So eine Gemeinheit!“ und „Ekelhafter, widerlicher Kerl!“ hörte man sie fluchen.
Nach und nach erfuhren die anderen, was geschehen war: Irgendwann hatte Frieda doch noch unter all den Besuchern ihre Schwester entdeckt in einer größeren Gesellschaft aus maskierten und verkleideten Damen und Herren, zu dieser vorgerückten Stunde in ausgelassenster Laune. Trotzdem war Luise nicht entgangen, dass Frieda unerlaubterweise sich an ihrem Lippenrouge vergriffen hatte, und sie hatte sie entsprechend scharf zurechtgewiesen. Das hatte aber die Aufmerksamkeit der ganzen Tischrunde auf Frieda und ihren ungeschickten Versuch gezogen, sich ebenfalls „fein“ zu machen, und die Arme war umgehend das Ziel von Spottreden und Gelächter geworden. Das war zwar schlimm genug und setzte ihrem Selbstbewusstsein schon gehörig zu. Dann aber stand einer der Freunde von Luises Begleiter auf und nahm sie laut und mit verschusselter Aussprache vermeintlich in Schutz: „Lasstse doch, die Kleine! Sie haddoch recht. Je f...f...früher se zu üben anfängt, um so bälder sitse s...s...selber hier und amüsiert sich, anstatt euch die Sachen beizusch...sch...leppen undsu schuften. Un ich... übrigens, ich will mich dann schoma auf die Liste sch...sch...reiben, hihihi. Gell, meine Hübsche, ich darf der Erste sein?“ Und mit diesen Worten zog er das erschrockene Mädchen an sich, schob ein rotes, verschwitztes, unrasiertes Gesicht dicht vor ihres und drückte ihr einen lauten, scheußlich nach Schnaps, Bier und Bratfett riechenden Kuss mitten auf den Mund. Helles Gelächter erntete die Tat am ganzen Tisch, in das der Kerl selbst am grölendsten einstimmte. Frieda aber rannte heulend, voller Ekel und Entsetzen weg, um sich den abstoßenden Geschmack nach Suff und Ausschweifung aus dem Mund zu spülen und endlich die leidige Schminke, die ihr das alles überhaupt erst eingebrockt hatte, wie besessen abzuwischen.
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