Das Mädchen schluchzte immer noch, als die schneemannförmige Einsatzleiterin hereinkam und befahl: „So, Schluss jetzt, alles was unter sechzehn ist, geht heim!“ Von manchen Seiten hörte man Protest, aber sie war unerbittlich. „Nix da, keine Widerrede. Ihr seid lang genug da gewesen, habt eure Sache auch anständig gemacht, aber jetzt ist Feierabend. Wir wollen schließlich nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten.“ Und wenn sie ehrlich waren, kam ihnen das auch nicht ganz so ungelegen. Manche konnten die Augen kaum noch offen halten, bewegten sich mehr wie in Trance, ein Mädchen hatte sich vor lauter müder Unkonzentriertheit sogar übel geschnitten, kurz, man wehrte sich nicht lange, stand an, um seine Arbeitsbescheinigung zu erhalten, gab seine Schürze ab und trat durch den Hintereingang in die wohltuend kalte Nachtluft hinaus. Nur Rudolph fehlte noch, aber Fritz hatte gesehen, dass er inzwischen vorne am Haupteingang einer trinkgeldträchtigen Aufgabe nachging: er besorgte Gästen, die das Fest verlassen wollten, Droschken und Taxen, half ihnen mit ihren Sachen hinein und bekam so einen ordentlichen Zusatzverdienst zusammen. Nur widerstrebend und erst aufgrund der Drohung, dass man ihm später seinen Einsatzschein nicht mehr abzeichnen würde, ließ er sich überzeugen, das lukrative Geschäft aufzugeben und sich den Gefährten anzuschließen.
„Eins sag’ ich euch“, verkündete er entschieden, als sie durch die im Tiefschlaf liegenden Straßen gingen, „wenn ich groß bin, gehör ich mal zu denen, die hier im feinen Anzug und Zylinderhut Champagner bestellen, im Pelzmantel rauskommen und Trinkgelder verteilen. Das hab ich mir heute Abend fest vorgenommen. Jetzt - gut und schön, brav Diener machen und fleißig zutragen und wegtragen und hoffen, dass der Herr sich großzügig zeigt, von mir aus. Aber das mach ich nicht das ganze Leben lang mit!“
„Wisst ihr denn schon, was ihr mit dem Geld macht, das ihr heute Abend verdient habt?“ fragte Elsa.
„Kann eigentlich ein Kind ein Konto haben?“ erkundigte sich Agnes. „Ich würde mein Geld am liebsten auf die Bank bringen, damit der Vater es nicht findet und mir abnimmt.“
„Warum kaufst du nicht einfach Sachen dafür, dann kann er’s dir schon nicht mehr wegnehmen. Bei mir ist bestimmt nichts mehr übrig für die Bank, wenn ich erst mal einkaufen war! - Vielleicht reicht’s ja für ein Grammophon mit ein paar Platten, das wär’ so klasse! Und Suse wünscht sich so sehr einen Gürtel, den sie im Laden gesehen hat, Otto ein Taschenmesser, Hänschen braucht neue Schuhe, für Mutter und Vater will ich natürlich auch was...“ - „Ja, und für dich selbst? Du hast doch die ganzen Stunden geschafft, willst du für dich denn gar nichts?“ fragte Karl ganz erstaunt. „Klar, für mich find ich sicher auch was, keine Bange!“ grinste Elsa.
„Also, ich möchte meins am liebsten nicht gleich ausgeben“, meinte Agnes, „man weiß doch nicht, was noch alles passiert...“
„Aber das Fest! - Das war doch wirklich eine tolle Sache, findet ihr nicht?“ wechselte Elsa das Thema. „So schön war alles hergerichtet; und was für Kostüme die Leute anhatten, ich konnte mich gar nicht satt sehen!“
„Ja, aber schon auch bisschen komisch, oder?“, meinte Karl, „wenn erwachsene Leute Verkleiden spielen.“
Die einzigen, die sich gar nicht am Gespräch beteiligten, waren Frieda und Johannes. Die eine hatte zu sehr noch zu knabbern an dem verstörenden Erlebnis, mit dem das Fest für sie zu Ende gegangen war; der andere war ganz in seine Gedanken versunken, in denen der Blick in das Schloss, in dem Reichtum und Einfluss wohnten, der ehrgeizige Wunsch, dereinst „mitreden zu können“, die vielfältigen bunten und exotischen Eindrücke aus den vergangenen Stunden, der Nachhall der Musik, zu dem sich all diese Bilder in beschwingten Kreisen drehten, und dazwischen immer wieder das Aufscheinen eines unmöglichen Blaus, eines unheimlich-aufmunternden, weißen Lächelns und die Vision, von der phantastischen, geheimnisvollen Gestalt bei der Hand genommen und sanft entführt zu werden - „He, Johannes!“ riss Rudolphs Stimme ihn aus diesem Reigen. „Schläfst du schon im Gehen? Oder bist du auch geküsst worden wie Frieda hier, die sich, scheint’s, ja gar nicht mehr von dem Schrecken erholen kann? Dabei wird sie das ja wohl noch öfter erleben, bevor sie alt und runzelig ist.“
Die See lag ruhig und glänzte unter dem wolkenfreien Himmel nach allen Seiten hin endlos in tausend Reflexen des ungehemmten Sonnenlichts. Fast hätte man glauben können, das Schiff läge bewegungslos, doch hob und senkte es sich im ruhigen Atemrhythmus eines traumlos Schlafenden mit einer ansonsten nicht wahrnehmbaren Dünung; hin und wieder knarrte Balken, Planke, Mast, klatschte leicht ein schlaffes Segelende. Ein leises Zischen und Wellenplätschern am Bug war fast das einzige Indiz, dass das Schiff von einem sanften, aber stetigen Wind vorangetrieben wurde und den grenzenlosen, scheinbar aus bloßer golddurchwirkter, luftdurchwehter Bläue bestehenden Raum schwerelos und doch planvoll und richtungsgewiss durchschnitt.
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Er stand an der Reling des Vorderdecks, federte das leichte Auf-und-Nieder in den Knien ab und ließ seinen Blick sich in der Weite verlieren.
Wenige Wochen erst auf See, etwas Übung in Enge, Seemannskost und balancierendem Gang, der Beginn einer wagemutigen Unternehmung, von deren Verlauf und Ausgang nur eines gewiss war: dass sie so glatt, so leicht beschwingt wie dieser Auftakt nicht bleiben würde.
Und doch: die Hoffnung, dass jene flügelleichten, sonnendurchwärmten ersten Tage als gutes Omen für die ganze Reise zu nehmen erlaubt wäre...
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Nach wochenlanger Aussicht auf einen ununterbrochen zirkelgeraden Horizont ein im Spätnachmittagslicht wachsender, zunehmend Konturen zeigender dunklerer Streifen, den man morgen als festes Land betreten würde - Afrika!
Davor jedoch eine Nacht der Wunder: Nach Sonnenuntergang zünden nicht nur am Himmel ungezählte Lichter, auch das Meer erglänzt in tausendfachem Leuchten, jeder Wellenkamm bildet einen feurighellen Kranz, jedes Wellental breitet einen strahlenden Teppich aus zahllosen Lichtpunkten unter dem Rumpf des Schiffes aus, das so im wahrsten Sinne ein Lichtermeer durchschwebt, und man zwischen oben und unten, Himmel und Erde, Luft, Wasser und Feuer die Orientierung zu verlieren meint.
Das Wunder des leuchtenden Wassers - es ist mithilfe von in Eimern an Bord gehobenen Proben bald enträtselt: Abertausende kleinster Weichtierchen, die in bewegtem Wasser ihre Fähigkeit des selbständigen Leuchtens aktivieren - enträtselt, aber auch dann noch ein großes, beglücktes Staunen.
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Nach mehrtägigem Landgang mit Erkundungswanderungen durch fremdartig wilde Natur- und von europäischen Siedlern nach bekanntem Muster nutzbar gemachte Kulturlandschaft wieder auf See und, tatsächlich, die sorglose Zeit scheint zu Ende: tagelange Stürme, Schwanken und Taumeln, Brecher, die auf Deck schlagen, Ausstattung zerbrechen und Kojen durchnässen, alles noch mit Humor getragen, und dann: Nacht des Grauens und Stunden der Todesangst: eindringendes Wasser, verzweifeltes Ankämpfen der gesamten Besatzung mit Pumpen und Eimern, in Finsternis und Ungewissheit über die Ursache des Unglücks, bis endlich doch nur ein vom Sturm oder den Wellen aufgedrücktes Fenster als undichte Stelle ausgemacht, schnell fest verschlossen, die Kabinen freigepumpt werden können und Erleichterung über die knappe Rettung sich ausbreitet - wie viele ähnlich gefährliche Situationen würde man noch zu bestehen haben bis zum Ende der Reise?
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Täglich zunehmende Kälte, in der kaum noch zu trocknenden klammen Kleidung nur schwer erträglich. Das Einerlei unzulänglicher Kost, immer gleicher Abläufe und immer wieder enttäuschter Hoffnungsblitze, endlich Land zu finden. Monatelanges ausweglos erscheinendes Kreuzen zwischen dichter und größer werdenden Treibeisformationen, durch eine seelenleere, in mancher Nacht vom befremdlich-schönen Südpolarlicht überstrahlte Hölle...
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