Mit zitternden Armen zog er sich an einem der obersten Jungen hoch, und der riet ihm währenddessen: „Gleich über uns hier ist ein dicker Ast. An dem hältst du dich erst mit einer Hand, dann auch noch mit der anderen fest und ziehst dich hoch auf unsere Schultern. Dann gehst du mit dem linken Fuß auf die äußere Schulter von Otto und dann mit dem rechten auf die andere, und von dort aus kannst du dann in den Zweigen weiterklettern. Wir passen auch gut auf!“ Kalter Schweiß überzog Fritz’ Gesicht und das Zittern war jetzt in seinem ganzen Körper, nicht mehr nur in den Armen. Einzig die Furcht vor der Verachtung der Kameraden und der große Wunsch, Johannes für ein Mal zu beeindrucken, gaben ihm gerade genug Kraft, gegen die Angst weiterzumachen. Doch er spürte das Klopfen seines Herzens bis in den Mund und hatte das Gefühl, es immer wieder hinunterschlucken zu müssen.
Er folgte den Anweisungen der anderen, so gut er konnte, und das hieß langsam, zögerlich, manchmal steckenbleibend, weil er rechtes und linkes Bein verwechselte oder nicht wusste, wohin mit dem Fuß, den er gerade eben unter Aufbietung aller Überwindungskraft angehoben hatte. Die anderen aber halfen wirklich sorgsam und hielten, stützten, dirigierten ihn. Dann stand er auf den Schultern des äußersten Jungen in dieser Reihe, die Hände fest um einen der dickeren Äste geklammert, und setzte den linken Fuß auf einen weiteren stabil scheinenden Ast, zog sich ein Stück weiter nach oben und verließ mit dem rechten Fuß nun auch noch den letzten Kontakt mit der menschlichen Pyramide. Er schaute vorsichtig nach oben - Gott, welch eine Illusion! - durch die Lücken zwischen dem Pflanzengestrüpp konnte er sehen, dass das freie Stück Mauer oberhalb in Wirklichkeit viel zu breit war. Das würde nicht einmal der stärkste, mutigste, geschickteste Kletterer bewältigen können. Es hätte ja gar keinen Sinn, dass er weitermachte, bloß, das würden die anderen ihm nie und nimmer glauben.
Die sahen ihn den Kopf in den Nacken legen und nach oben spähen, dann den Kopf schütteln und nach ein paar Sekunden sehr zögerlich nach einem höheren Ast greifen und mit einem Fuß einen guten Halt suchen. Und nun ging alles sehr schnell: ein Griff, ein Zug nach oben, ein Nachgeben, Sich-Ablösen des Pflanzentriebs von der Mauer, ein kurzer Aufschrei, ein Absacken um ein, zwei Meter unter Mitnahme eines Bündels grünen Gezweigs; dann ein Absturz in Etappen, immer wieder abgebremst von dem Gestrüpp, das aber genauso unaufhaltsam immer wieder mit lautem Knacken, Rascheln und Schleifen unter der plötzlichen Belastung nachgab; es sah aus, als hangelte er sich wie ein Äffchen Stück für Stück, aber blitzschnell nach unten, nur dass es der Freiwilligkeit entbehrte und er keinerlei Kontrolle mehr über den Vorgang hatte. Am Ende fiel er den paar Kameraden, die hinzugesprungen waren, in die ausgestreckten Arme und alle zusammen stürzten sie zu Boden.
Er hatte großes Glück gehabt, weil er nie vollständig den Kontakt mit dem Grünzeug verloren hatte, das ihn zwar recht sehr zerstochen und zerkratzt, dabei aber einen freien Fall aus der doch beträchtlichen Höhe glimpflich verhindert hatte.
Jetzt drängten sich alle um ihn, der noch benommen und vom Schreck erstarrt am Boden kauerte, die meisten froh, dass nichts Schlimmeres geschehen war, nur wenige enttäuscht und böse, dass er sich so ungeschickt angestellt und das ganze Unternehmen zum Scheitern gebracht habe.
„Es wäre sowieso nicht gegangen“, sagte er schwach, als er sich ein wenig erholt hatte. „Wirklich, man wäre nie bis oben hingekommen, ich hab’s genau gesehen!“
Es war seltsam, aber bei allem Versagen, aller vermeintlichen Blamage, trotz der ausgestandenen Angst und trotz der Blessuren, die schmerzten, fühlte sich Fritz in diesem Moment so gut und so selbstbewusst wie schon lange nicht, umringt von den besorgten und erleichterten Freunden - immerhin hatten ja sie ihn in diese Gefahr geschickt und hatte er sich am Ende nicht verweigert, und das Scheitern hatte zu guter Letzt nichts mit seiner furchtsamen Ungeschicklichkeit zu tun gehabt. „Nein, das Stück Mauer über den Pflanzen ist viel zu hoch, das hätten nicht mal eure Zirkusakrobaten hingekriegt!“
Nun hatten sich natürlich alle gleich gedacht, dass das Ganze eine Schnapsidee gewesen war. Das konnte ja auch überhaupt nicht gutgehen!
Aus dem beleidigten Widerspruch vor allem von Seiten Karls und Rudolphs entstand ein hitziges Wortgefecht, während dessen Fritz sich mühsam und leise ächzend erhob, seine Kleider abklopfend und seine Wunden inspizierend sich um sich selbst drehte. Plötzlich rief er: „Oh, seht doch mal! Was ist das denn?!“ Als niemand ihn beachtete, zupfte er das zunächst stehende Kind am Ärmel, bis es sich umwandte, und zeigte auf eine Stelle am Fuß der Mauer nur ein paar Meter schräg hinter ihnen. Das andere Kind hatte ein kräftigeres Organ: „He, Leute, jetzt guckt euch das bloß mal an!“, da unterbrachen sie ihren Disput und schauten hin, wo Fritz schon stand und die Stelle untersuchte.
„Nein, so was!“ und „Das gibt’s doch wohl nicht!“, riefen sie durcheinander, und Johannes stöhnte, halb lachend: „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Da organisieren wir die verrücktesten Kletterpartien, bringen uns halb um mit Zirkusakrobatik, um über die Mauer zu gucken, und hier ist die ganze Zeit einfach eine Tür!“
Durch Fritzens Absturz war hier im unteren Bereich ein ganzes Stück der Pflanzenmatte von der Mauer losgelöst und heruntergerissen worden und hatte wie ein beiseite gezogener Vorhang eine Fläche nackter Wand freigegeben. Und gerade dort befand sich eine kleine unscheinbare eiserne Tür, deren rostige Farbe sich von dem alten Ziegelrot der Backsteine auch noch kaum abhob.
„Dann war sein Unfall ja eigentlich eine richtig gute Sache!“ rief einer; und „ja, die paar blauen Flecken und Kratzer ist es wirklich wert gewesen“, ein anderer. Und schon standen alle aufgeregt und höchst gespannt und sahen zu, wie einer nach dem anderen sich an der Klinke zu schaffen machte - nur, da bewegte sich gar nichts.
„Eingerostet - so ein Mist!“
„Dann müssen wir’s mit Werkzeug probieren.“
Da liefen ein paar, um zuhause nach dem Nötigen zu suchen, und man machte sich mit Scheren, Messern, Schraubenziehern, sogar ein Stemmeisen war aufgetaucht, ans Werk. Man versuchte, das Schlüsselloch, das mit Sand, Erde, Steinchen, Stängeln verstopft war, frei zu bekommen, man suchte eine Stelle, wo der Spalt zwischen Türblatt und Rahmen groß genug war, um das Stemmeisen anzusetzen und die Tür aufzuhebeln - alles vergebens! Es war, als wäre die Eisentür in die Ziegelmauer eingeschmolzen, hätte sich mit ihr zu einer untrennbaren Fläche ohne irgendeinen Ansatzpunkt verbunden - kurz, als wäre sie als Tür eigentlich inexistent, eine Attrappe, eine Täuschung, eine Herausforderung und Verhöhnung zugleich.
Eine ganze Weile mühten sich die Kinder ab und rückten ihr mit allen erdenklichen Utensilien, allen möglichen Ideen zu Leibe, aber schließlich mussten sie einsehen, dass auch hier nichts auszurichten war, und gaben auf.
Die meisten blieben aber noch an Ort und Stelle, standen beisammen und, da ihre Neugier nach wie vor unbefriedigt blieb, ließen sie eben ihren Spekulationen darüber freien Lauf, was sich denn nur hinter der Mauer verbergen könnte. Dabei zeigten sich zwei ganz konträre Fraktionen: die einen hielten sich mit ihren Vermutungen eher an Dinge, die mit nüchternem Realismus einigermaßen vereinbar waren; die anderen sagten sich, wenn man schon nicht wissen könne, wie diese Realität beschaffen wäre, dürfe man ruhig seine Phantasie sich austoben lassen. Und so stellte sich Frieda ein wunderschönes Schloss vor, vielleicht ein Ferienschloss, wo Kaiser und Kaiserin und Prinzen und Prinzessinnen ihre freie Zeit verbrächten. „Warum nicht gleich der Kaiser von China?“, machte Rudolph sich lustig. „Ja, und warum eigentlich nicht?“, gab Frieda zurück. „Kann doch sein, wenn der mal mit seiner Familie zu Besuch ist, darf er dort wohnen und hat eine ganze Heerschar von Dienern und Dienerinnen für sich, und kriegt den ganzen Tag die leckersten Sachen gekocht. Und alles Geschirr und Besteck - und die Waschschüsseln - und ... und die Nachttöpfe sind aus Gold, und die Spiegel aus Silber, und auch die Kutschen sind aus Gold und Silber, und die Vorhänge und Sofas aus Samt und Seide, und überall glitzern Edelsteine, und alles ist herrlich und reich und ...“ - Was im Moment aber vor allem glitzerte, das waren Friedas Augen, denn sie hatte sich richtig in Verzückung geredet.
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