„Ich stell mir lieber vor, dass dort das Schlaraffenland ist“, meldete sich Karl zu Wort, „wisst ihr noch, aus der Geschichte, die wir mal im Lesebuch hatten? Ach, denkt euch doch: schon allein die dicke Mauer aus Grießbrei, durch die man sich erst durchfuttern dürfte. Und dann: Flüsse und Seen aus Milch und Honig und Saft, die gebratenen Vögel, die einem in den Mund fliegen, die Würste, Brötchen, Kuchen, die man sich von den Bäumen pflücken und aus den Zäunen brechen könnte. Jederzeit genug zu essen und zu trinken, ohne einen Finger zu rühren!“
„Bah, das sind doch alles Kindermärchen!“ meinte Rudolph.
„Womöglich ist ja einfach bloß ein Gefängnis dahinter“, sagte Agnes. „Von dieser Seite her jedenfalls sieht die Mauer eher nach so was aus.“
„Aber dann hätte man das doch längst mitgekriegt“, gaben die anderen zu bedenken.
„Also, ich könnt’ mir vorstellen“, kam endlich Rudolphs Beitrag, „dass da irgendwas ganz Geheimes untergebracht ist, von der Regierung oder vom Militär. Vielleicht Verstecke, wo sich die in Sicherheit bringen können, wenn mal Krieg ist. Oder auch, dass dort was gebaut wird, von dem noch niemand wissen darf, Waffen oder so was... - aber“, unterbrach er sich, „sagt mal, wer ist eigentlich die da?“ und er deutete in Richtung der Häuser, wo in einiger Entfernung ein Mädchen stand und zu ihnen herüber sah. „Die steht da schon 'ne ganze Weile und beobachtet uns.“
Da konnte Karl Auskunft geben: „Die ist heute Morgen mit ihrem Vater bei uns eingezogen, in den Schuppen vom alten Schleifer-Franz, der doch neulich gestorben ist.“
„Sieht aus wie 'ne Zigeunersche“, kommentierte Rudolph mit abschätziger Miene.
„Sagt mein Vater auch“, stimmte Karl zu, „und der Mann erst! Ich weiß nicht, ob ich das so gut finde, die so dicht auf der Pelle zu haben. Aber Papa hat eben die ersten genommen, die kamen, damit er bald wieder Miete kassiert.“
Unter den neugierigen und kritischen Blicken der Nachbarskinder hatte das Mädchen längst wieder kehrtgemacht und war die Straße entlang zwischen den Häusern verschwunden.
„Vielleicht“, griff Agnes das alte Thema wieder auf, „vielleicht gibt’s da auch einfach ein großes Lager für irgendwas, Essen oder so, für schlechte Zeiten, und damit nichts geklaut wird, haben sie so eine hohe Mauer drumrum gebaut.“ - „Na, wie schlecht sollen die Zeiten denn dann noch werden, bevor sie das rausrücken?“
„Aber es könnte doch auch irgendwas viel Schöneres sein, zum Beispiel ein Heim für kranke Kinder oder so was“, war Elsas Vorschlag, „wo sie ihre Ruhe haben sollen, um schnell wieder ganz gesund zu werden. Und dann gäbe es da einen richtig schönen großen Garten mit tollen Blumen und Spielsachen, Schaukeln und so, und irgendwie müsste immer die Sonne scheinen, auch wenn’s auf unsrer Seite regnet oder schneit...“
Jetzt schaltete Fritz sich auch noch ein: „Habt ihr denn eigentlich noch gar nie daran gedacht, dass da das echte Paradies sein könnte? Irgendeinen Grund muss es doch haben, dass unsere Straße so heißt. Dann wäre sicher wirklich immer Sonnenschein, und überall würden Engel rumfliegen, und keiner hätte Sorgen; und vielleicht wären ja die gestorbenen Leute dort und hätten’s gut, Johannes’ Vater zum Beispiel und meine kleine Schwester, die müssen doch irgendwo geblieben sein.“
„Aber Fritz, das war doch anders, du verwechselst da was: In den Himmel kommen die Toten, und das Paradies ist doch das mit Adam und Eva, mit der Schlange und dem Apfelbaum.“ - „Ja, ja, und die Mauern müssen so hoch sein, damit die Schlange nicht rauskann.“ - „Haha, oder damit der Apfelbaum nicht höher werden kann als die Mauer und garantiert nie einer von den Äpfeln auf unsere Seite fällt!“ - „Na, ich dachte ja bloß“, meinte Fritz kleinlaut, „ich hab’ geglaubt, das wäre alles dasselbe.“
So standen sie und spekulierten und diskutierten, und keiner merkte, wie sich der Himmel rasch zugezogen und verdüstert hatte; plötzlich und ohne Vorwarnung klatschten ihnen die ersten dicken kalten Tropfen ins Gesicht, und eh sie sich’s versahen, prasselte schon ein Wolkenbruch herunter, dass es eine Art hatte. Blitzschnell stoben sie alle auseinander und jeder lief, so rasch er konnte, heim.
An diesem Abend lag Johannes ungewöhnlich früh im Bett. So pudelnass war er, trotz des kurzen Weges, zur Tür hereingestürmt, dass die Mutter ihn anwies, gleich die Sachen auszuziehen und sich eine Decke umzuhängen. Sie hatte sowieso gerade am Küchentisch gestanden und die Auftragswäsche gebügelt. Als sie damit fertig war, versuchte sie also, seine Hose und sein Hemd, so gut es ging, trocken zu bügeln, damit sie am nächsten Tag wieder benutzbar wären, und er hatte währenddessen wie ein Indio in seinem Poncho auf einem Schemel am Herd gehockt, wo die Mutter immer wieder das Eisen erhitzte, hatte ihr zugesehen und von den Abenteuern des Nachmittags erzählt, was bei seiner Mutter allerdings ein besorgtes Kopfschütteln hervorrief.
„Hast du übrigens gewusst, dass bei Gulachs neue Untermieter eingezogen sind? Karl und Rudolph sagen, das sind Zigeuner - glaubst du das?“
Die Mutter überlegte kurz: „Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Ich dachte, die ziehen in großen Sippschaften mit Wohnwagen durch die Gegend. Manche glauben ja auch, sie stehlen wie die Raben. Insofern wäre es nicht so nett, wenn die Gulachs uns Strauchdiebe in die Nachbarschaft gesetzt hätten. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt, am Ende werden sie wohl auch nicht schlechter sein als andere Leute.“
Jetzt lag er da und konnte nicht einschlafen. Auf das Dach über ihm und ans Fenster klopften letzte verwehte Regentropfen, nebenan hörte er die Mutter noch räumen und richten. Er dachte noch einmal an das fremde Mädchen, wie es da gestanden und zu ihnen herübergesehen hatte. Sehr dunkelbraune oder schwarze lange Haare hatte sie gehabt, ansonsten war eigentlich an ihr nichts weiter Ungewöhnliches gewesen. Natürlich konnte man aus der Entfernung auch nicht viel mehr erkennen; jedenfalls trug sie keinen kunterbunten weiten langen Rock und keine übergroßen Ohrringe, sondern steckte in genauso einem abgetragenen, unbeholfen geflickten wadenlangen Kleid - Farbe unbestimmt - mit Schürze darüber wie alle Mädchen hier; vielleicht war die Hautfarbe eine Schattierung dunkler als die der meisten Leute, die er kannte, aber Rudolph und er selbst waren auch etwas brauner als zum Beispiel der blasse Fritz oder als Frieda mit ihren fast rötlichen Haaren... Ob sie, die Neue, wohl Lust gehabt hätte, sich zu ihnen zu gesellen, wenn sie nicht so ablehnend zurückgestarrt hätten? - Ein wenig erinnerte ihn die Szene an die exotischen Begegnungen mit den Südseebewohnern aus Herrn Mäuthis’ Buch... - Da saß er blitzschnell kerzengerade und hellwach im Bett: Du lieber Himmel, das Buch! Das hatte er doch vollkommen vergessen, das lag ja noch draußen unter dem Busch am Kanal! Und in all dem Regen! Sein Herz begann wild zu klopfen, ihm wurde ganz schlecht und schwach, und schon kamen ihm auch die Tränen, während er von seiner Pritsche sprang, fast schon im Gehen sich in die noch feuchten Kleider zwängte und durch die Küche zum Ausgang lief. Die Mutter rief ihm nach, wohin er denn noch wolle. „Hab was vergessen“, gab er schon in der Tür über die Schulter zurück und war schon von der Dunkelheit verschluckt. Er ging nur ein paar Meter, da wurde ihm klar, dass er ein Licht brauchen würde und rannte noch mal zurück. Mit einer Laterne machte er sich erneut auf den Weg. Er biss die Zähne zusammen und kämpfte das aufsteigende Weinen hinunter - noch wollte er die Hoffnung, dass das Gebüsch das Buch ausreichend geschützt haben könnte, nicht ganz aufgeben. Aber wenn er an den heftigen, schweren Guss und den dichten Dauerregen dachte, in den dieser übergegangen war und der doch bestimmt eine Stunde mindestens angehalten hatte...
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