„Harte Kontraste“, raunte mir Tim zu und wir gingen schnell zurück zur 57. Straße.
Wir buchten eine nächtliche, geführte Tour und sahen Harlem, das nun zu einer ruhigen Wohngegend mit schönen Häusern geworden war. Und wir besichtigten das World Trade Center.
Mit einem speziellen Aufzug, der nur alle zehn Stockwerke hielt, rasten wir bis ganz nach oben, durften aber wegen des starken Windes nicht auf die Aussichtsplattform.
Aber auch hier war die Aussicht unglaublich. Ich zog sofort meine Kamera heraus und knipste.
„Die werden alle nix“, erklärte Tim sofort. „Dafür ist deine pupsige kleine Kamera nicht ausgerichtet. Da muss man mit Zeitverzögerung langsam belichten oder so ähnlich.“
„Klar werden die was! Bei so einem Lichtermeer“, protestierte ich und knipste weiter. Leider behielt er recht. Nur auf einem einzigen Bild sah man ein paar verwaschene bunte Lichtpunkte, die anderen waren schwarz.
An diesem Abend schloss ich das World Trade Center in mein Herz und war todunglücklich, als ich es Jahre später im Fernseher einstürzen sah. Tim hatte tröstend den Arm um mich gelegt und war genauso erschüttert gewesen wie ich. Ich hatte auch ein paar Aufnahmen der Türme am Tag gemacht und vom Straßenschild der Wall Street.
Und viele, viele Fotos aus dem Central Park. Tim auf diesem Felsbrocken stehend, Tim auf einer Bank sitzend, Tim eines der zahmen grauen Eichhörnchen fütternd. Ich blätterte und blätterte.
Ganz am Ende hatte Amelie das beste Foto auf die ganze Seite drucken lassen: wir beide, geknipst von der Reiseleiterin vor dem Lincoln-Center. Wir hatten uns vor den Springbrunnen gestellt und Tim hatte den Arm um mich gelegt. Wir lächelten so glücklich auf diesem Bild. Und jedes Mal, wenn der Springbrunnen in einem Film auftauchte, riefen wir: „Da! Da waren wir!“, bis Amelie es nicht mehr hören konnte.
Die Tür ging auf und ich zuckte heftig zusammen. Tim kam herein, die ältere Version. Es fiel mir jetzt noch stärker auf, dass er nicht mehr dieses zärtliche Lächeln im Gesicht und auch nicht diesen verträumten Ausdruck in den Augen hatte, wenn er mich ansah. Die Jahre stürzten auf mich ein wie ein eiskalter Hagelschauer.
Tim setzte sich in den Sessel und nahm einen Apfel. Einer aus dem Garten von Silke und Florian, die ihre Ernte großzügig verteilt hatten.
„Was machst du denn hier?“, entfuhr es mir.
„Ich esse einen Apfel. Oder darf ich das nicht“, muffelte er zurück.
„Doch. Ich wundere mich nur. Normalerweise sitzt du doch den ganzen Abend unten und ... kommst nur zum Schlafen wieder hoch.“
„Ja und? Ist das schlimm?“
„Nein! Ich sage nur, dass es ungewohnt ist.“
Ich hob das Fotobuch, sodass er es sehen konnte.
„Guck mal, was Amelie da gemacht hat. Toll, oder? Willst du mal gucken? Die schönen Fotos? Und die Bildqualität ist super. Weißt du noch? Wir zwei in New York?“
Er zuckte nur mit den Schultern.
„Jetzt nicht.“
„Schade, ich fand die Reise klasse. Das war richtig toll damals, oder?“
„Hm.“
„Tja. Dann eben nicht. Gehst du wieder runter? Oder willst du fernsehen?“
„Nee, ich gehe gleich ins Bett.“
„Nicht mehr runter? Das wundert mich.“
„Mein Computer spinnt“, gab er zu. „Stürzt dauernd ab.“
„Vielleicht ein Virus. Soll ich mal gucken?“
„Nee, lass mal“, wehrte er heftig ab.
„Tja, Safer Sex wäre eben auch am Computer ratsam.“
Ich konnte es mir einfach nicht verkneifen.
„Hä? Was sollen diese ständigen Andeutungen eigentlich?“ Er legte seinen angeknabberten Apfel auf den Tisch und starrte mich böse an.
„Ich habe dich nun mal gesehen. Mitten im Geschehen. Schrubbeldiwubbel.“
„Äh ... wann war das?“
„Vor ein paar Monaten. Ist das wichtig? Die beiden Blondinen mit der Salatgurke, wenn du es genau wissen willst. Vielleicht spielen sie ja jetzt mit Flaschenkürbissen rum, passend zur Jahreszeit.“
Verlegen senkte er den Blick und kaute an seinem Bärtchen herum.
„Was ist schon dabei“, murrte er.
„Nichts. Zerr ruhig weiter an ihm herum.“
„Na von dir kommt ja ewig nichts mehr, was soll ein Mann da machen.“
Nun sah ich rot.
„Ich?! Du bist doch derjenige, der mich seit Jahren nur noch als bessere Putzhilfe sieht!“
„Irgendwann gibt man halt auf!“
„Ach, du gibst auf? Ich habe mir immerhin am Hochzeitstag noch Mühe gegeben, dir war das da längst egal!“
„Der bedeutete doch schon nichts mehr, Maren“, sagte er auf einmal ganz ruhig und sachlich. Mein Herz fing an, heftig zu pochen. Wenn er so war, dann war das schlimmer als schlechte Laune oder Wut. Ich kannte ihn ja. So neutral redete er sonst nie.
„Was meinst du damit?“, fragte ich alarmiert.
„Nur, dass wir schon lange nebeneinanderher leben.“
„Ja, ich weiß. Nur, was können wir dagegen tun?“
„Keine Ahnung. Ist mir aber auch nicht mehr wichtig, wenn ich ehrlich bin.“
„Nicht mehr wichtig?“ Ich begann zu schwitzen. Wusste er etwa von Jörg?
„Nicht mehr so richtig, nein.“
„Äh, ja ... und was jetzt? So weitermachen wie bisher? Sollten wir nicht eine Eheberatung machen oder so etwas?“, fragte ich mit Lippen, die sich taub und kalt anfühlten. Was ging denn hier auf einmal ab?
„Ach, darauf habe ich keine Lust. Die können mir doch keine Gefühle herbeireden, die ich in der Form nicht mehr habe.“
„Was meinst du damit?“, flüsterte ich. Ich wusste, was nun kam. Aber es traf mich trotzdem wie ein scharfes Schwert mitten ins Herz.
„Ich sage, dass ich keine Gefühle mehr für dich habe.“
„Du liebst mich nicht mehr?“
„Nein.“ Seine Augen waren flach und ausdruckslos, als er mich ansah.
Ich hatte vor Jahren mal „Vom Winde verweht“ gelesen und nun erinnerte mich Tim fatal an Rhett Butler, der Scarlett klarmachte, dass er für sie nichts mehr empfand. Was für ein Mist war das? Lag es am schwarzen Schnauzbart? Hörten Männer mit Schnauzbärten irgendwann auf, ihre Frauen zu lieben?
Ich sank in die Couch zurück und starrte meinen Mann an, mit dem ich so viele Höhen und Tiefen durchgemacht hatte.
Die Reise nach New York hatte uns einander näher gebracht, aber die Zeit danach fest aneinandergeschweißt. Amelies schwierige Geburt, ihre Krankheiten, gemeinsam aufgewischtes Erbrochenes und gewechselte Windeln, der Hauskauf und das jahrelange Abstottern, finanzielle Engpässe, Streitereien und Versöhnung, weil wir es nicht ertrugen, wenn der andere böse war, gemeinsames Lachen und Spielen mit der Kleinen, Weihnachten und Geburtstage, Kuscheln auf der Couch und liebevoller Sex.
Und jetzt war all das vorbei.
Er liebte mich nicht mehr. Das raubte mir sämtliche Kraft. Wenigstens seiner Liebe war ich mir immer sicher gewesen. Sie hatte mich gestärkt. Jetzt war ich auf einmal nur noch ich selbst, ohne meine andere Hälfte.
Es war, als hätte mir jemand auf einmal alle Luft aus einem Schwimmring gelassen und ich sank und sank. Etwas in mir zerbrach.
Wir blickten uns an. Seine Augen blieben flach und ausdruckslos. Schließlich hob er die Schultern und seufzte.
„Was soll man machen, es ist nun einmal so.“
„Und ...“ Ich schluckte. „Und wie soll es weitergehen?“
„Von mir aus so wie bisher. Wenn wir uns trennen, müssen wir das Haus verkaufen. Das wäre doch bescheuert. Was wir an Arbeit und Geld reingesteckt haben, bekommen wir sowieso nicht mehr raus.“
„Na, das hast du dir ja fein überlegt!“
„Wenn wir uns trennen, ist das für Amelie und mich schlimm. Ich sehe sie dann nicht mehr so oft.“
„Ah, deshalb also. Tja, sie ist sowieso praktisch erwachsen und wird sich bald kaum noch hier sehenlassen. Was ist, wenn du oder ich neue Partnerschaften eingehen? Hm?“
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