Dort fanden wir einen Plan, wo wir welche Klassenräume, Kantine, Festsaal und auch unsere Zimmer finden konnten. Jessie staunte und meinte lustig: „Mensch! Wenn ich gewusst hätte, dass die Schule größer ist als unser Dorf, dann hätte ich mir noch einen Kompass eingepackt.“ Mary und ich lachten darüber. „Ich finde es toll, dass wir zusammen hier sind.“ meinte ich glücklich. Zustimmend und auch sichtlich begeistert umarmten mich die beiden.
Als wir in unseren Zimmern angekommen waren, fand jede von uns auf dem Bett einen Zettel liegen. Auf dem las ich, dass abends im Festsaal die neuen Schülerinnen begrüßt werden sollen. Dort würden auch die Stundenpläne verteilt und die Vertrauenslehrer vorgestellt. Ich schaute auf meine Uhr und merkte, dass ich noch viel Zeit bis dahin hatte. Sorgfältig packte ich meine Koffer aus und verstaute meine Klamotten in den Schrank. Ich konnte es noch gar nicht fassen. Jede von uns hatte ein eigenes Zimmer. Das war mehr, als ich mir erhofft hatte. Die Räume waren jeweils mit einem Bett, Nachtschränkchen, einem geräumigen Schrank, einem Tisch und zwei Stühlen ausgestattet. Die Toiletten und die Waschräume gab es am Ende des Ganges.
Etwas später kamen Mary und Jessie in mein Zimmer. Mary zog hinter ihrem Rücken eine Flasche Wein hervor. „Schau mal, was wir beide für uns organisiert haben.“ sagte Mary begeistert. Jessie lachte und meinte fröhlich: „Zur Feier des Tages, dass wir unser Dorf hinter uns gelassen haben, werden wir die Flasche jetzt austrinken.“ „Aber doch nicht jetzt. Wir müssen gleich noch in den Festsaal. Ich will nicht direkt an meinem ersten Tag nach Alkohol riechen. Wir wollen ja nicht direkt auffallen.“ antwortete ich gewissenhaft. Ich wusste, dass die beiden daran nicht gedacht hatten. Sie wollten ja nur Spaß.
Auf dem Weg zum Festsaal gingen wir im Erdgeschoss wiederholt an diesem Plan vorbei. Mary begutachtete unseren Standpunkt und meinte: „Ich glaube wir müssen da lang gehen!“ und deutete mit ihrem Finger in die entgegengesetzte Richtung, in der unsere Zimmer waren. Jessie schaute sich den Plan auch noch einmal an und meinte nickend: „Du hast recht. Na dann lasst uns mal los.“
Zusammen suchten wir nach dem Festsaal und fanden ihn auch recht schnell. Diese Halle war riesig, wie alles in dieser Stadt. Eine große Kuppel mit Kronleuchtern war über einem reich geschmückten Saal zu sehen. Vor uns auf einer Art Bühne standen die Lehrer und davor waren auf vielen Bänken die Schülerinnen verteilt. Neben uns stand eine nette junge Frau und meinte zuvorkommend: „Die neuen Schülerinnen sitzen vorne in der ersten Reihe. Ich werde es euch zeigen.“ Zufrieden darüber, dass sie uns unsere Plätze zeigte, folgten wir ihr.
Die erste Bank war ziemlich nah an der Bühne dran. Ich war immer eine Person, die bei Versammlungen meistens hinten sitzt und nur bei Konzerten oder Vorführungen ganz vorne sitzen will.
An unserem Platz angekommen setzten wir uns rasch hin. Einige Lehrer saßen schon auf ihrem Platz und viele kamen gerade erst an, aber unterhielten sich miteinander. Ich schaute mir die Lehrer, die saßen genau an und überlegte mir, wen ich alles im Unterricht haben könnte. Plötzlich fiel mein Blick auf einen Lehrer, der etwa 35 Jahre alt war, dunkelblonde Haare und blaue Augen hatte. Er warf mir einen Blick zu, den ich in diesem Moment nicht zuordnen konnte. Er machte mir Angst. Ich versuchte ihn nicht mehr anzusehen, aber aus meinem Augenwinkel heraus merkte ich, dass er mich immer noch ansah. Da stupste mich Mary an und fragte mich: „Hast du mal bitte ein Taschentuch für mich?“ „Natürlich!“ sagte ich erleichtert, weil sie seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Kurz darauf sah er in eine andere Richtung.
Auf einmal wurde es still im Saal und ich merkte, dass der Direktor der Schule an seinem Sprechpult stand und in die Runde schaute. Alle Lehrer sahen ihn an und die Schülerinnen taten das Gleiche. Er war ein recht imposanter Mann, mit stämmiger Erscheinung, graue Haare, Brille und eine Narbe im Gesicht. Mary flüsterte mir zu: „Wo hat der denn diese Narbe her?“ Ich zuckte mit den Schultern und widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem Direktor. Dieser stand vor uns und erzählte: „Mein Name ist Professor Kain. Ich bin der Leiter dieser Schule, wie ihr sicherlich schon festgestellt habt. Die meisten von euch Schülerinnen kennen mich schon. Aber die neuen hier vorne in der ersten Reihe werden mich in den nächsten Jahren noch kennenlernen. Wir haben hier alles, was euer Herz begehrt. Wenn ihr Hunger habt, dann steht euch unsere Kantine mit einer hervorragenden Köchin zur Verfügung. Für eure Gesundheit haben wir hier eine gute Ärztin an dieser Schule. Es gibt für euch einen Klassenraum für die Pflichtfächer. Je nachdem, was ihr sonst noch für Kurse belegen wollt, kann es sein, dass ihr in einen anderen Raum gehen müsst. Ich hoffe, im Laufe der Zeit, dass ihr euch für euren Berufswunsch entschieden habt und wir euch darauf vorbereiten können. Und nun werde ich euch die netten Kolleginnen und Kollegen hinter mir vorstellen.“ Dann drehte er sich um, begrüßte jeden einzelnen vorne an seinem Pult und die Lehrer stellten sich kurz selbst vor und was für Fächer sie unterrichten. Es hätte Unterschiedlicher nicht sein können. Es waren einige ältere Frauen und ältere Herren dabei, die einen netten Eindruck auf mich machten. Der einzige Lehrer, der nicht so alt war wie die anderen, war der mit dem Blick, der mir Angst machte. Als dieser nach vorne kam, schaute er uns kurz an und sagte dann: „Hallo! Mein Name ist Pete Harris. Ich unterrichte hier an dieser Schule erst seit fünf Jahren. Meine Fächer sind Kunst, Mathematik und Sport. Ich freue mich in Zukunft mit ihnen arbeiten zu können.“ Dabei schaute er mich an. Ich wollte wegschauen, aber ich tat es nicht. Irgendwen musste er ja anschauen. Er kann ja nicht mit dem Kronleuchter reden. Ich hielt seinem kurzen Blick stand. Ich wollte mir nicht anmerken lassen, dass mir sein Blick ein unbehagliches Gefühl spüren ließ. Pete Harris, ich hielt es für nötig, mir seinen Namen zu merken.
Nach der Einführung durch den Direktor und den Lehrern durften wir uns an dem Buffet bedienen. Jessie zog Mary und mich zu den Tischen und sagte hektisch: „Kommt schnell, bevor der ganze Sekt fort ist.“ „Nicht so eilig. Wir wollen ja nicht direkt an unserem ersten Tag auffallen.“ meinte Mary bittend. Mein Blick fiel auf Pete Harris und ich sagte leise: „Dafür ist es zu spät.“ Am Buffet angekommen drückte Jessie uns jeder ein Glas Sekt in die Hand und sagte: „Prost! Auf unsere gemeinsame Zeit hier.“ „Prost!“ antworteten Mary und ich jubelnd. Uns gefiel die neue Schule und wir waren uns sicher, dass wir noch eine Menge Spaß dort haben würden. Ich trank etwas aus meinem Glas und Mary sagte leise: „Der einzig gutaussehende Lehrer ist Pete Harris. Er ist ja auch noch ziemlich jung im Gegensatz zu den anderen.“ „Ja das stimmt. Und er scheint nett zu sein.“ flüsterte Jessie kichernd hinzu. Ich wollte erst mal nichts dazu sagen. Plötzlich meinte Mary: „Seht mal. Er schaut zu uns rüber.“ Ich drehte mich langsam um und sah, dass Pete Harris sein Glas erhob und uns mit einem Lächeln zuprostete. Wir erhoben auch unser Glas und nickten ihm zu. Ich machte bei meinen Freundinnen mit, damit er nicht erkennen konnte, dass ich mich etwas vor ihm fürchtete.
Später begrüßten uns ein paar Lehrer und gemeinsam tranken wir noch ein wenig. „Was John jetzt wohl macht?“ fragte Jessie verträumt. Mary klopfte ihr auf die Schulter und antwortete: „Er wartet bestimmt darauf, dass du ihm mal schreibst.“ „Genau! Ich als seine Schwester denke, dass er immer noch etwas für dich empfindet.“ meinte ich leise zu ihr. Mit einem Schwips taumelte Jessie lächelnd auf mich zu und fragte: „Kannst du das mal für mich herausfinden? Kannst du ihn mal ein wenig darauf ansprechen?“ Lachend nickte ich und griff ihr unter den Arm um sie zusammen mit Mary in ihr Zimmer zu bringen.
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