In den nächsten zwei Wochen bis zum Schulabschluss redeten wir kaum von dieser Stadt. Aus Angst vor dem Fluch, oder aus Furcht nicht genommen zu werden, das konnte keiner sagen.
Am Tag der Abschlussfeier wurden uns die Zeugnisse von dem Schuldirektor ausgehändigt. Mary, Jessie und ich hatten einen relativ guten Notendurchschnitt gehabt. Als wir gerade wieder auf unsere Plätze gehen wollten, kam Paul Mole auf uns zu und gab jeder von uns einen Brief in die Hand und lächelte uns zu. Als wir nachsahen, was in den Briefen stand, waren wir glücklich, denn jeder von uns wurde in dem Internat angenommen. Freudestrahlend sah ich meine Mutter an und winkte mit dem Brief. Diese aber sah mich traurig an und schüttelte mit dem Kopf.
Ein wenig später wurde ich in der Tanzgruppe für die Abschlussaufführung gebraucht. Schnell zog ich mich um und stellte mich zusammen mit den anderen Mädchen und Jungs auf die Bühne. Dort führten wir, für die Verhältnisse im Dorf, ein modernes Tanzstück auf.
Am Abend saß die ganze Klasse in einem der größeren Räume der Dorfkneipe und wir feierten gemeinsam die neu erlangte Freiheit, auf die viele von uns schon lange gewartet haben.
Kapitel 2: der Aufbruch
In unseren letzten langen Sommerferien fuhren Mary und Jessie mit ihrer Familie an das Meer, um dort noch einmal zusammen Urlaub zu machen. Meine Eltern, mein Bruder und ich besuchten meine Großeltern, die ziemlich weit weg von uns wohnten. Meine Oma gefiel mir äußerst gut und mein Opa war der Größte für mich, der mir viele Geschichten aus seinem Leben erzählen konnte. Ich liebte die beiden sehr und ich freute mich, sie in diesen Ferien wiederzusehen.
Von der Auffahrt sah ich meinen Opa auf einer Bank in seinem Garten sitzen, wie er gemütlich seine Pfeife rauchte. Von weitem sah er uns im Auto fahren und winkte zu uns herüber. Unmittelbar danach kam meine Oma aus der Haustüre und hatte einen Teller voller kleiner Kuchen in den Händen, welchen sie auf den großen Tisch in dem Garten stellte. Für mich konnte ich mir kein schöneres Leben vorstellen, als ein Anwesen zu haben mit viel Garten herum, einen lieben Mann und eine Menge Zeit dies alles richtig auskosten zu können. Irgendwann wollte ich wie meine Großeltern leben. Ein wunderschönes bordeauxrotes Haus mit weißen Fensterläden und einem weißen Gartenzaun. In dem Garten einen kleinen Teich und einige Rosensträucher in verschiedenen Farben und über dem Gartentisch ein Dachgeflecht aus Weinranken. Es war wunderbar dort zu leben.
Während Mum und Dad mit meiner Oma die Taschen im Haus verstauten, setzten sich John und ich zu Opa auf die Bank. „Na ihr beiden, wie sieht es bei euch in Zukunft aus?“ wollte er wissen und nahm noch einen Zug aus seiner Pfeife. John sah beschämt auf den Boden und antwortete: „Nicht besser als sonst. Bei mir gibt es keine Neuigkeiten.“ Opa bemerkte den traurigen Unterton in seiner Stimme und nickte zunächst nur. Dann sah er mich an und fragte: „Und, was machst du jetzt so nach der Schule?“ „Ich werde auf ein Mädcheninternat gehen, wo ich mir um meine berufliche Zukunft Gedanken machen kann. Meine Freundinnen Mary und Jessie begleiten mich.“ antwortete ich. Bei Jessies Namen zuckte John etwas zusammen. „Jessie? Ist das nicht der Name von Johns Freundin gewesen?“ forschte Opa nach. John nickte und meinte seufzend: „Ja, genau diese Jessie ist es.“ „Liebeskummer?“ „Ein wenig. Sie wird mich nicht heiraten. Auch wenn sie es wollte, dürfen wir es nicht, denn ihre Eltern können mich nicht leiden. Am liebsten würde ich mit ihr meilenweit wegfahren und nie mehr wieder kommen, aber das muss sie dann auch wollen. Ich weiß ja nicht, ob sie mitkommen würde, oder eher gesagt, ob sie mich so liebt, um alles hinter sich zu lassen.“ erklärte mein Bruder. Opa klopfte ihm auf die Schulter, erhob sich von der Bank und antwortete kurz: „Egal was du machen willst, es möge dir gelingen.“
Als wir alleine waren, erzählte ich John: „Jessie liebt dich noch. Sie ist vielleicht nur zu stolz das zuzugeben. Außerdem weiß ich, dass ihr vor einigen Wochen wieder zusammen wart. Das hat sie mir zwar auch nicht gesagt, aber ich weiß es trotzdem.“ „Woher willst du das denn wissen? Ja OK, wir waren zusammen. Wir hatten unseren Spaß, weil wir irgendwie nicht die Finger voneinander lassen konnten. Ich half ihr vor Buster zu entkommen und dann kamen wir uns näher. Aber sie kann mir doch sagen, wenn sie mich noch liebt.“ antwortete John und wollte aufstehen. Doch dann ließ er sich wieder auf die Bank fallen und meinte stolz: „Es wäre besser, wenn ich die Zeit nutze, in der ihr auf dieser Schule seid, um sie zu vergessen. Wie oft habe ich ihr schon mein Herz geöffnet, nur damit sie dann wieder darauf herumtrampelt. Ich weiß nicht, ob sie das nur macht, weil wir eh nicht heiraten können um mich so auf Abstand zu halten. Aber wenn wir uns wirklich lieben würden, dann wäre das doch egal. Wir könnten davon laufen. Irgendwo hin, wo uns keiner kennt und wir keine Schwierigkeiten bekommen. Soll sie zunächst auf dieses Internat gehen, und ich versuche zu vergessen.“ Schweigend blieben wir so sitzen, bis es Abend wurde.
John konnte aufgrund seiner Ausbildung nicht so lange bei unseren Großeltern bleiben, wie ich. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, verbrachte ich noch eine schöne Zeit bei Menschen, die ich liebte.
Eine Woche vor der Abreise in die neue Schule packte ich ein paar meiner Sachen ein, die ich unbedingt mitnehmen wollte. Dazu gehörten: mein Adressbuch, Briefpapier, einige Familienfotos, meine Lieblingslieder auf Kassette und den dazugehörigen Kassettenrekorder. Mehr dachte ich, brauche ich nicht zum Leben.
Mary, Jessie und ich erkundigten uns nach einer Reisemöglichkeit nach Yellowtown, aber niemand wollte von dieser Stadt reden, geschweige denn uns dorthin bringen. Ein einzelner versuchte uns sogar zu erzählen, dass es diese Stadt gar nicht geben würde. Dies kam uns nur zu seltsam vor.
Schließlich am Ende der Woche fragten wir Paul Mole, wie wir dorthin kommen könnten. Sehr freundlich antwortete er: „Aber sicher weiß ich einen Weg. Ich selbst fahre übermorgen noch einmal dahin, um einen meiner alten Freunde zu besuchen. Da kann ich euch in meinem Wagen mitnehmen.“ „Ach! Wenn sie das machen würden, wären wir ihnen sehr dankbar. Ich dachte schon, dass wir hierbleiben müssten.“ seufzte Jessie leise. Mary fragte ihn etwas vorsichtig: „Stimmt es, dass diese Stadt verflucht ist?“ Lachend schaute uns Paul Mole an und meinte: „Es gibt da solche Gerüchte. Aber ich bin selbst öfter dort und kann nichts Seltsames entdecken. Und außerdem hat jeder Ort so seine Flüche. Nur man sieht sie nicht, oder man weiß nichts darüber. Wer weiß denn schon, was mal hier in unserem schönen Ort so alles passiert ist?“ Ich wurde das Gefühl nicht los, dass wir an dieser Stelle von ihm verspottet wurden.
Am Tag der Abreise verabschiedete ich mich von meinem Bruder und meinen Eltern. Sie umarmten mich feste und meine Mutter wollte mich schon gar nicht mehr loslassen. Sie flüsterte mir ins Ohr: „Ich kann dich leider nicht hier halten, aber bitte versprich mir, gut auf dich aufzupassen.“ „Ja, ich verspreche es dir. Ich werde gut auf mich achtgeben.“ antwortete ich ihr und drückte sie noch fester an mich. Es war das erste Mal in meinem Leben, das ich in die ferne Welt gehen würde, ohne meine Eltern dabei zu haben. Es fühlte sich komisch an und ich hatte Angst davor. Mit Tränen in unseren Augen nahm ich die Koffer in die Hände und ging zum vereinbarten Treffpunkt an der Schule.
Während wir in sein Fahrzeug einstiegen, warf ich ein letztes Mal einen Blick auf meine so vertraute Heimat mit allen meinen Erinnerungen an eine schöne Zeit als Kind. Dann wandte ich meine Gedanken meiner Zukunft zu, die sicherlich aufregender werden würde als das beschauliche Leben in meinem Heimatdorf. Dass es eine Zukunft sein würde, die turbulenter wurde, als mir lieb sein konnte, lag damals jenseits meiner Vorstellungskraft.
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