Sie eilten zur Unglücksstelle und er musste seine Männer bremsen, zur Vorsicht mahnen, damit sie nicht selbst noch eine zweite Lawine oder einen Felssturz auslösten. Da sie nur zwei Spaten hatten, gruben sie die Verschütteten mit bloßen Händen aus. So wie hungrige Hunde einen stinkenden alten Knochen ausbuddelten.
Zwei Verunglückte konnten sie nur noch tot bergen: Ein Mädchen von etwa sieben, acht Jahren und einen älteren Mann. Lonnie, der große Lonnie, führte die beiden anderen Kinder, womöglich Geschwister, aber die Frage war erstmal unerheblich, zur Seite und konnte seine Tränen nicht zurückhalten.
„Und was machen wir jetzt mit den Leutchen?“, wollte Stanni wissen.
„Über Scheat nach Kirjat, und zwar so schnell wie irgend möglich. Die Kinder und vor allem die Frau mit dem Säugling müssen gut untergebracht und anständig versorgt werden.“
„Die spricht nicht, meint Rikkart.“
Irritiert sah Jurei ihn an. „Kein Manduranisch, oder ...“
„Gar nicht, sagt er, gibt nur so seltsame, jammernde Laute von sich.“
„Vielleicht der Schreck?“
Er trat zu Rikkart und der Frau, die abgesehen von einigen Schürfwunden und vermutlich etlichen Blutergüssen äußerlich unverletzt schien, aber immer wieder stöhnte, den Kopf schüttelte, leise wimmerte. Ihn nicht ansah, nicht reagiere, als er sie auf Ostländisch ansprach. „Ich bin Jurei und wir werden euch gleich von hier wegbringen, in Sicherheit. Bist du verletzt, hast du Schmerzen? Oder dein Kind?“
Die Frau, sicher nicht viel älter als er, reagierte noch immer nicht, änderte auch nicht ihr merkwürdiges Verhalten. Aber er bemerkte sofort die übergroße Angst, die schiere Panik in ihrem Blick, als er bloß die Hand hob, ließ diese schleunigst wieder sinken. „Ist schon gut, ich ... wir tun dir nichts. Ich möchte dir nur aufhelfen, nur das, nur helfen. Verstehst du?“
Wenigstens sah sie ihn an, ganz kurz, doch ihre Antwort, ein kehliges, wie verschlucktes Lallen, verstand er nicht. Unvermittelt griff sie nach seinem Handgelenk, deutete dann eindringlich auf sich, ihre Kehle, und schüttelte den Kopf.
Jurei runzelte die Stirn, meinte sie ... „Du kannst nicht sprechen, weil du ...“
Sie nickte heftig, zeigte auf ihren offenen Mund, und er ahnte, wollte gar nicht mehr wissen. Flüsterte rau. „Du hast keine Zunge mehr?“
Wieder nickte sie, und er wusste nicht, wie er reagieren sollte, stoppte die Gedanken, seine jäh aufwallende Wut, weil ... Fragte nicht nach und hielt ihr nur seine leeren, offenen, von Schnee und Kälte geröteten Hände entgegen, seine Stimme belegt. „Ich könnte dein Kind für dich tragen, nur eine Weile, damit du aufstehen und dich in eine Decke, wir haben ein paar, wickeln kannst. Ja?“
Die junge Frau umklammerte ihr Kind nicht mehr ganz so arg, sondern löste, lockerte zögernd ihren Griff und streckte es ihm entgegen. Fürsorglich nahm er das Kleine auf den Arm, wusste aber ihren misstrauischen Blick auf sich. Jurei versuchte nochmals, auch ihr aufzuhelfen, hielt ihr die Rechte hin. Vergeblich, die Frau rappelte sich allein auf, verzog klagend das Gesicht. Sie war winzig, mehr als einen Kopf kleiner als er, überaus zierlich, ja geradezu mager, ihre ärmliche Kleidung zerrissen und fleckig.
Er lächelte ihr zu, hielt ihr einmal mehr die Hand hin. „Geht es? Wir...“, er unterbrach sich. „Ich vergaß. Rikkart, noch eine Decke?“
Der angesprochene beeilte sich, die junge Frau nicht nur in eine Decke, sondern darüber hinaus auch sorgsam in seinen Mantel zu wickeln, der ihr viel zu groß war. „So, dann ist es nicht mehr ganz so eisig, ja? Du musst sagen, wenn ich noch etwas tun kann, dir ... Äh, verstehst du überhaupt Manduranisch?“
Doch Rikkart erhielt keine Antwort, die Frau mied seinen Blick. Sie schien vor ihm, einem jeden Angst zu haben. Stand vielleicht tatsächlich unter Schock, doch das konnten sie jetzt nicht klären. Später, wenn sie die Leute, eine wahrlich bunt zusammengewürfelte Truppe: Männer, Frauen, Alte, Junge, in Sicherheit gebracht hatten. In dem Fall hieße das hinunter nach Kirjat, was für ihn ... Ein Umweg, aber auch eine letzte Möglichkeit, noch einmal mit Remassey zu reden, sich von diesem zu verabschieden.
Nahe Kirjat, Mandura, Frühling/Frühsommer R. D. 19
Der bärtige Kerl, er roch nicht gerade sauber, lachte dröhnend: „Erzähl mir jetzt nich‘, die Kleine wär‘ deine aktuelle Freundin?“
Vadim winkte ab. „Die Tochter eines guten Bekannten. Ich hab sie ein bisschen unter meine Fittiche genommen, eh sie ganz allein auf Wanderschaft geht. An die falschen Leute gerät.“
Wie diesen Kerl, bestimmt doppelt so alt wie er selbst, den Vadim in der Spelunke kaum einen Tagesmarsch nördlich der Ortschaft traf? Enisa mochte weder das Lokal, die spärlichen Gäste erweckten wenig Vertrauen, noch den Mann, der sie viel zu neugierig musterte, regelrecht anstarrte.
„Aye, treibt sich ziemlich viel Gesindel auf den Straßen rum, du kannst nicht vorsichtig genug sein. Ich lad‘ euch ein, ein Bier verträgt dein kleines Goldstück ja hoffentlich?“
Vadim lachte, gab sich betont locker und offen, die Hand kameradschaftlich auf dem Arm des anderen. „Gerne doch. Sag mal, du hast doch gute Kontakte, ist“, er senkte die Stimme, so dass Enisa den geflüsterten Namen nicht verstand. „... zu sprechen?“
Der Mann, unangenehme alte Kerl, schüttelte fast mit Bedauern den schweren Schädel. „Auf die Schnelle sicher nicht, aber“ Wieder fiel sein Blick auf Enisa, glitt klebrig-anzüglich von ihrem Gesicht aus tiefer; am liebsten hätte sie die Arme vor der Brust verschränkt. „Versuch es übermorgen in der ›weißen Anemone‹, am späten Abend.“
„Am Abend?“
„Spät abends, vormittags haben die keinen Publikumsverkehr. Wie du weißt. Die Kleine lässt du besser bei mir, oder willst du, dass sie dort was lernt?“
„Damit du ihr dann was beibringst?“ Vadim klang skeptisch.
„Ein wenig Weisheit und Lebenserfahrung haben noch keiner geschadet, nicht wahr, meine Hübsche?“ Er tätschelte Enisas Hand, bevor diese sie wegziehen konnte, ein Stück zurückwich. „Sie ist süß.“
„Störrisch und aufmüpfig, tut nie, was man ihr sagt.“
„Ein bisschen Gegenwehr ist doch das Salz in der Suppe, damit weiß ich umzugehen.“
„Ich erinnere mich“, brummte Vadim. Enisa konnte nicht sagen, ob ihm die Erinnerung gefiel. „Du hast ein Mädchen, an Hände und Füßen gefesselt, für drei Tage in eine Truhe gesperrt.“
„Einen Schrank“, verbesserte der Bärtige gönnerhaft. „Danach war sie ganz sanft und folgsam.“ Erklärte er an Enisa gewandt, die die Geschichte, den Mann nur widerlich fand: „Allerdings musste ich sie gründlich säubern und waschen lassen. Mir gefällt nicht, wenn die Weiber stinken, die reinlichen sind mir lieber. Oder die ganz jungen, gerade erblühten.“
Und wenn der Kerl ihr jetzt in die Wange kniff, würde sie laut schreien, aufspringen, ihm ins Gesicht spucken. Vadim hatte ihr geraten, still zu sein, sich nicht ins Gespräch einzumischen, aber der Kerl forderte es doch geradezu heraus. Sie verstand nicht, warum Vadim ruhig blieb, brauchte der ihn, seine Hilfe so nötig?
„Du kannst das Goldstück gern eine Weile bei mir lassen, ich pass‘ schon gut auf sie auf.“
„Bringst ihr womöglich das eine oder andere bei“, scherzte Vadim rau. Er erhob sich, die Hand nach Enisa ausgestreckt. „Ich lass‘ es mir durch den Kopf gehen.“
Er zog sie wenig zärtlich hinter sich her, raus auf die regenfeuchte Straße. Nur wenige Passanten waren noch unterwegs, die falsche Gegend, die falsche Zeit.
„Das war doch nicht ... Das meint der Kerl doch nicht ernst? Und du“
„Sei still“, fuhr Vadim sie an, packte grob ihren Arm.
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