Mir wurde mulmig.
Nicht, dass sie mir Neues erzählte, aber es ausgesprochen aus dem Mund eines Zweiten zu hören, war dann doch noch mal etwas anderes.
Sie fuhr fort: „Nehmen Sie das Geld, Mulder. Es verschafft Ihnen Zeit. Und wenn Sie zu meiner Zufriedenheit arbeiten, gibt es noch einmal so viel, das sollte Ihnen erst einmal weiterhelfen.“
Ich sah auf den prall gefüllten Umschlag hinab. Sie verstand das fälschlicherweise als unentschlossenes Zögern und schob deswegen schnell nach: „Hören Sie, Mulder, es ist doch unverkennbar, dass Sie völlig orientierungslos sind. Ich glaube, eine neue Aufgabe könnte Ihnen helfen, Ihren Weg wiederzufinden und einen klaren Kopf zu bekommen.“
Und damit traf sie einen blitzeblanken Nerv.
Eine neue Aufgabe, und das auf meinem Spezialgebiet, davon hatte ich nicht einmal zu träumen gewagt und ich fühlte, wie allein der Gedanke daran meinen Panzer langsam von innen heraus zum Schmelzen brachte und meine Lebensgeister erregte. Das Geld konnte sich sehen lassen und würde mir Zeit verschaffen, meine Scheiße auf die Kette zu bekommen.
Ein wirklich unmoralisches Angebot.
Doch ich konnte nicht verdrängen, um wen es sich hier handelte. Max Schulte! Warum wollte sie den Mörder ihres Sohnes finden? Mit Sicherheit, um Rache zu nehmen, und hierbei konnte ich unmöglich Pate spielen. Und das wollte ich auch nicht. Ich war dankbar, dass Schulte tot war. Ich begrüßte, wie Schulte umgekommen war – erstochen, bestialisch, und nicht von einem Bus überfahren, bumm und aus. Ich spürte, wie jeder weitere Gedanke mich innerlich wieder erkalten ließ, und das machte mir Angst, doch ich konnte das nicht so einfach tun.
„Warum? Warum wollen Sie, dass ich den Mörder Ihres Sohnes finde? Wollen Sie Rache, das kann nicht Ihr Ernst sein. Ihnen muss doch klar sein, dass mir der Tod Ihres Sohnes nicht nur einfach am Arsch vorbeigeht, sondern eine extreme, äußerst tiefgründige Befriedigung ist.“
Mann, war die danach angepisst. Doch sie sammelte sich schnell. Bedenklich schnell. Keine Ohrfeige, kein Bier landete in meinem Gesicht. Sie schluckte meine Äußerung wie einen Klumpen verfaultes Fleisch herunter, was mir zeigte, wie verzweifelt sie mich brauchte. Nur wofür wirklich? Sie schüttelte sich und fuhr fort.
„Mir ist klar, was Sie denken und wie Sie über meinen Sohn und seinen ...“, hier stockte sie kurz, zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich die Augen, Mann, sie war wirklich gut, „... seinen Tod denken. Aber versetzen Sie sich mal in meine Lage. Nach allem, was passiert ist, komme ich ausgerechnet zu Ihnen, um nach Hilfe zu bitten. Denken Sie ernsthaft, dass mir das leichtfiel? Glauben Sie, dass ich nicht tausend Alternativen vorher durchgegangen bin, bevor ich mich dazu entschloss, diesen Gang zu leisten? Glauben Sie, ich hatte keine Angst? Aber trotzdem bin ich hier, und zwar nur weil ich weiß, dass Sie gut sind, wahrscheinlich sogar der Beste. Und ich will den Besten hierfür. Und wen sollte ich sonst auch fragen? Die Polizei ist zurzeit viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.“
Während sie sprach, blickte sie durchgehend auf das Taschentuch in ihren Händen, an dem sie rumzupfte. Dann sah sie auf und sagte: „Ich bin nicht wegen Rache hier, Mulder. Ich möchte, dass Sie verstehen, und ich möchte Ihnen nichts vormachen.“
Daraufhin traten ihr Tränen in die Augen, doch mich ließ das immer noch völlig kalt. Sie hatte früher schon gelogen, perfekt gelogen. Polizisten und Anwälten glatt ins Gesicht gelogen, ohne Skrupel, eiskalt, ohne einen leisesten Zweifel in Stimme oder Gestik erkennen zu lassen, vorgetragen und bis zum Ende durchdacht, durchgezogen. Die Frau wusste genau, was sie wann zu tun hatte.
Sie trocknete ihre Augen, räusperte sich, setzte sich wieder aufrecht hin und fuhr fort:
„Nichts, wirklich nichts auf dieser Welt schmerzt so sehr wie der Verlust des eigenen Kindes. Sie haben keine Kinder, Sie können das nicht verstehen, man kann jemandem, der keine Kinder hat, nicht erklären, was es bedeutet, Kinder zu haben. Keine Liebe ist vergleichbar. Keine Liebe ist so existentiell, so wahr und unzerrüttbar, so unantastbar und einzigartig und so unzweifelhaft auf ewig. Und diese Liebe ist zeitlebens an ein Versprechen geknüpft – das Versprechen, alles Frauenmögliche dafür zu tun, dass dem eigenen Kind nichts Böses widerfährt.“
Sie schnäuzte sich die Nase und ich dachte: Das klingt ja alles ganz rührend, hilft mir aber nicht. Alles, was du sagst, ist ein Plädoyer dafür, warum ich dir auf keinen Fall helfen sollte. Alles, was du sagst, schreit nach Rache.
Sie fuhr fort und ich hielt still. Wollte hören, wo das noch hinführte, denn tief in mir wusste ich, ich brauchte diese Chance. So kaputt war ich.
Sie steckte das Taschentuch in ihren Ärmel zurück und sprach leise weiter.
„Ich habe nicht auf ihn aufgepasst, wie ich das, hätte tun sollen. Ich habe ihn im Stich gelassen und das Mulder, wird mich mein Leben lang nicht mehr loslassen. Ich werde nie wieder unbeschwert leben können. Ich stehe morgens mit dem Gedanken auf und gehe abends mit ihm ins Bett. Ich träume von und mit ihm und ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann. Ich brauche einen Grund für seinen Tod. Einen Grund, mit dem ich leben kann. Ein Schicksal, das mir hilft zu verstehen, warum er getötet wurde, vielleicht, nur vielleicht, wird mir das ja helfen, ein wenig Seelenfrieden zu finden, wenn ich einen klaren Grund dafür bekommen kann, warum jemand zur Mörderei getrieben wurde und warum mein Sohn das verdient hat.“
Sie sah mich an, doch ich sagte nichts, ließ keine Wimper zucken. Das reichte mir noch nicht.
„Sehen Sie, Mulder“, fuhr sie fort, „versuchen Sie mal zu vergessen, dass es sich um meinen Sohn handelt. Versuchen Sie mal zu vergessen, dass es sich um mich handelt. Sie sollen mir keinen Gefallen tun. Sehen Sie das Ganze zuerst einmal als einen Job an, den Sie zu erledigen haben, einen Job, der gut bezahlt wird. Und Sie sollen jemanden retten. Den Täter. Ich will nicht, dass ihm etwas zustößt. Das war kein Profikiller, Mulder, das glaube ich nicht. Ich glaube, er ist ein Getriebener, der jetzt da draußen rumläuft, alleine, ängstlich, verzweifelt, und Hilfe braucht. Ich möchte, dass Sie ihm helfen und ihn finden, bevor es jemand anderes tut.“ Sie nahm meine Hand. „Ernsthaft, Mulder, ich will nur mit ihm reden.“ Sie sah mich mit großen Augen an.
Verdammt, jetzt hatte sie mich.
Glaubte ich den Schmu?
Einen Scheiß tat ich.
Aber ich glaubte, dass der Täter dringend Hilfe benötigte, ganz dringend, sonst waren seine Stündlein gezählt. Die Tat war nicht gut geplant, eher hektisch und kurzfristig ausgeführt. Der Ort war schlecht gewählt und er hatte pures Glück gehabt, dass ihn keiner gesehen oder überrascht hatte. Das wirre und ungezielte Einstechen auf den Körper sprach eindeutig mehr für einen emotionalen Wutabbau als für ein gezieltes Töten.
Das war kein Profi gewesen.
Und das war mein Aufhänger. Damit konnte ich die Scham übertünchen. Ich rette diese arme, verirrte Seele und beschütze den Attentäter vor sich selber, der Polizei und vor Eva Schulte, denn das würde ich auf keinen Fall tun – ihn ihr ausliefern. Sollte sie doch verrecken mit ihren verkackten Schuldgefühlen und ihrer beschissenen Trauer. Sollte sie doch ihr verdammtes Leben lang kein Auge mehr schließen, das war mir scheißegal. Sie hatte es verdient. Ich wollte nicht wissen, wie viele Menschen wegen ihrer Sippe nicht schlafen konnten und immer noch nicht können. Ich hatte diesen armen Kerl zu retten. Ich spürte, wie es im Magen zu kribbeln und meine Schale weiter zu schmelzen begann. Das war perfekt. Es fügte sich perfekt ineinander. Eine vollkommen unerwartete Wendung, mit der ich in hundert Jahren nicht gerechnet hätte und die all meine Sorgen, Ängste und momentanen Unzulänglichkeiten auf einen Schlag ad acta legen würde.
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